Lichtresonanzen

Wie bereits in Annette Polzers 2020 ausgestellten Fotografien (LICHTGESTALTEN) ist das Licht auch in der aktuellen Ausstellung mit Malerei und Zeichnung Polzers zentrales Thema.

In ihren Ölbildern verwandelt Polzer den durch Stoffe fließenden Lichteinfall in diaphane Zeichenhaftigkeit. Die Arbeiten der Serie MERIDIANGEHÄUSE wirken auf den ersten Blick wie diffuse Farbflächen. Je nach Einfall des Lichts sind Strukturen zu erahnen oder gänzlich unsichtbar. Erst aus einem veränderten Blickwinkel der Betrachter*innen tauchen offene und ineinander verschachtelte Pentagramme wie von Zauberhand aus dem Untergrund auf.

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Serie MERIDIANGEHÄUSE

ZEICHNUNGEN

Lichtkompositionen und Lichtflächen

Lichtgestalten und Lichtwirbel

Blick in die Ausstellung

Besucher*innen-Performances mit den Kontakt-Handschuhen von Annette Polzer

Blick in den Garten

mit Annette Polzers begehbarer Skulptur „There is nothing wrong inside“, 2008, Plastiktüten und Bambusstäbe, 200 x 100 x 100 cm

LICHTGESTALTEN

oder Metamorphosen des Alltäglichen

 

Ein Loch im Fensterbrett, Gläser, Papiere und Pflanzen. Annette Polzer fotografiert Alltagsmaterialien. Soweit die gegenständliche Ebene.
Doch was spielt sich in diesen Fotografien auf der sichtbaren Ebene ab?

In einigen der Fotografien meinen wir Konturen zu erkennen. Doch dem Vertrauten und Bekannten lässt Annette Polzer die absonderlichsten Verwandlungen angedeihen. Ist die konische rote Form, die so auratisch leuchtet, ein Glas? Eine Vase? Überhaupt ein Gefäß? Und was erhebt sich auf dem steingrauen schrägen Plateau: ein Weinglas aus Vorzeiten? Ein Relikt, freigegeben von dem Eisblock, der da gerade zu schmelzen scheint?

 

Die Dinge, die wir tagtäglich nutzen, die wir um uns herum und stets im Augenwinkel haben, rückt Annette Polzer in ein fremdes, verfremdendes, erhellendes Licht. Die gegenständliche Welt scheint in diesen Bildern zu schlummern. Auf den ersten Blick wirken die Fotografien abstrakt. Doch jede der Aufnahmen ankert in der Wirklichkeit. Nur eben nicht in einer oberflächlichen Sicht.

 

In der Serie „Parade der Lichtgestalten“ taucht ein Porträt auf: eine Figur mit einem hohen Hut, deren Antlitz verschleiert ist. Sie erinnert an das Foto, das Joseph Beuys und den Performance-Künstler James Lee Byars 1983 bei einer gemeinsamen Perfomance zeigen. Byars’ mit Zylinder, sein Kopf in einen schwarzen Schleier gehüllt.
Die Gestalt in der Fotografie von Annette Polzer ist von weiß flirrenden Reflexen umhüllt. Noch ein Schleier. Ein gelber Lichtstreif zieht über die Hutkrempe. Aber auch hier tauchen Zweifel auf. Ist das, was wir sehen, ein Hut? Eine Figur? Eine ein wenig verschwommene vielleicht? Hingegen die Löcher, Risse und Spachtelspuren auf der Wand sind deutlich und scharf.

 

Willkommen in Platons Höhle

Was wir als Figur ausmachen, ist eine Formation von Gläsern, die Annette Polzer in der einen Hand hält und bewegt; während sie mit der anderen Hand den Auslöser drückt. In einem bestimmten Licht und einem bestimmten Raum. Es handelt sich somit um eine performative Fotografie. Nicht jedoch im ursprünglichen Sinne als Abbild einer Performance. Die Bewegung, das Licht und der Schatten schreiben die Dinge in die Wand ein – in unsere Netzhaut.

 

Annette Polzer ist Malerin. Wir könnten jetzt annehmen, dass sie hin und wieder auf die Fotografie zurückgreift, weil diese schlicht zeitsparender ist. Was dabei, wie überhaupt bei der Betrachtung von Fotografie außer Acht gelassen wird: Eine gute Fotografie entsteht nicht nur im Moment des Auslösens. Die Banalitäten heutiger Bilderfluten untermauern das nur. Neben der Kenntnis der Technik setzt sie Erfahrung voraus, die Zeit, in der das Auge geschult wird und Geduld. Wenn wir das vorhandene Licht voraussetzen, kann es Stunden dauern, auf das „richtige“ Licht zu warten, manchmal Tage oder Wochen.
Für einige ihrer Serien wartet Annette Polzer ein ganzes Jahr.

 

Die gegenwärtige Pandemie hat an unserem Zeitbegriff gerüttelt. Mit Vehemenz hat das Corona-Virus unsere Welt an einen Moment gebracht, in dem Paul Virilios rasender Stillstand real und spürbar geworden ist. Zugleich befanden wir uns plötzlich in einer Entschleunigungsphase. Aktuell bewegen wir uns – nach nur wenigen Wochen – mit einigem Vollgas in die sogenannte „veränderte“ Realität. Werden wieder (und vielleicht umso mehr) zu diesem „Reisenden ohne Reise“, diesem „Passagier ohne Passage“, den Virilio Ende 1980er-Jahre angemahnt hat.

Annette verfolgt mit ihren Fotografien seit Jahren einen Prozess der Entschleunigung. Verwandelt das Medium des „schnellen Sehens“ (Alvin Langdon Coburn, 1918) in ein sensibles Beobachtungs-Instrument. Sie schießt nicht mit der Kamera, sie tanzt mit ihr.

 

Lichte Schattenwelten

Wenn Polzers Blick durch die Kamera, der Blick einer Malerin ist, so geht es ihr (auch in der Fotografie) um Form und Farbe, um Linien und Struktur. „In der Malerei“, sagt die Künstlerin, „insbesondere in der gegenständlichen Malerei achte ich immer auf den Schatten. Der Schatten erklärt die Gegenstände.“ Diese Art des Sehens – das Erkunden des Gegenstands vom Schatten aus – überträgt Polzer in die Fotografie. Ihr zentrales Motiv ist das Licht.

In diesem Fokus materialisieren sich die Dinge in verblüffenden Verwandlungen der Formen und Farben. Wenngleich die Fotografie zu den immateriellen Medien gehört, so materialisieren sie sich hier im Sinne ihres entropischen Werts.
Das Loch im Fensterbrett hat einen neuen Aggregatzustand angenommen. Selbst wenn man weiß, auf welcher Fotografie es sich befindet – sein ursprüngliches Aussehen, seine ursprüngliche Materialität ist nicht mehr zu erkennen.

 

Den Fotografen definiert Vilém Flusser als einen Menschen: „der sich bemüht, die im Programm des Fotoapparats nicht vorgesehen Informationen ins Bild zu setzen“. Annette Polzer geht als Fotografin einen Schritt weiter. Rückt nicht nur die „nicht vorgesehen Informationen“ ins Licht, sondern vermag die Tiefenschichten zu heben, zu bewegen – sichtbar zu machen.
Wenn sie über ihre Fotografien spricht, benutzt sie bezeichnenderweise den Begriff Untergrund. Nicht wie üblich: Hintergrund oder Fond. Das, was ihre Fotografien grundiert, geht über die herkömmliche Staffelung von Raum und Zeit hinaus. Geht in tiefere Schichten des Sehens und ist in diesem Sinne durchaus subversiv.
Bisweilen treten archetypische Bilder aus diesen Fotografien hervor. Die oben erwähnte Figur mit dem hohen Hut, ist sicher kein Portrait. Aber James Lee Byars grüßt aus dem Untergrund von Annette Polzers lichten Schattenwelten.

Michaela Nolte
Berlin, im Juni 2020

Biographie Annette Polzer

Geboren in Hagen/Westfalen
1980-1982 privater Kunstunterricht bei Hellwig Pütter, Hagen
1982-1984 Unterricht bei Erich Krian, Andreas Rosenthal, Dortmund
1985 Sommerakademie Marburg
1985-1986 Unterricht bei Annegret Hauffe und Jean Yves Klein
1986-1988 Gasthörerin an der Universität der Künste, Berlin: Aktzeichnen bei Prof. Peter Müller; Zeichnen bei Jo Hagège; Objekttheater bei Peter Weitzner; Theater bei Heiner Müller
2012 Japanischer Farbholzschnitt bei Eva Pietzker
Annette Polzer lebt und arbeitet in Berlin.

Ausstellungen (Auswahl):

2020 „Lichtgestalten“ · Fotografien, Galerie Mönch Berlin
2017 „Abstrakt-poetisch II Connex_Berlin“, Schinkelkirche Petzow, Werder/Havel (G)
2016 „who`s afraid of…?, Pavillon Milchhof, Berlin (G)
2015 „abstraktion/reduktion“, Galerie Lortzing Art Hannover (G)
„Kunstglückskekse“, Kunstverein Burgwedel, Isernhagen (G)
2014 „abstrakt/poetisch“, Atelierhaus Westfalenhütte, Dortmund (G)
„Kunstglückskekse“, Galerie Lortzing Art, Hannover (G)
„Metropolis“, Kunstfabrik HB55, Künstlerhaus Bethanien, Berlin (G)
Kunstlichtfestival Velten (G)
„Farbe und Quadrat“, Galerie Lortzing Art, Hannover (G)
„durchzug“, Sony Center, Berlin (G)
2013 „Kunstvisite“, Campus Benjamin Franklin, Berlin (G)
Kunstlichtfestival Velten (G)
2012 „Freiflächen“, Verein Berliner Künstler, VBK (G)
Kunstlichtfestival Velten (G)
2011 Kunstlichtfestival Velten (G)
2010 „Leicht und Licht“, Galerie Lortzing Art, Hannover (E)
„Licht“, Badisches Kunstforum, Ebringen (G)
2009 „Schwingen“, Galerie Lortzing Art, Hannover (G)
„Membranmeditationen“, Galerie Perkau, Berlin (E)
„Licht“, Neue Galerie Kloster Bronnbach, Wertheim (G)
2008 Produzentengalerie Hundertmark, Berlin (G)
Moabiter Kulturtage Inselglück, Plattform Moabit, Berlin (G)
Offene Ateliers Brandenburg, Gräbendorf (G)
2007 „Licht“, Wehrkirche Gollmitz, Nordwestuckermark (G)
2006 „Lichtvariationen“, Galerie Kulturhaus Spandau, Berlin (E)
Eröffnungsausstellung Atelierhaus Sigmaringer, Berlin (G)
2005 “Lichtflecke”, Galerie LA GIRAFE, Berlin (E)
Ständige Ausstellung im ICC, Berlin (G)
„durchzug“, Sony Center, Berlin (G)
1997 Kunstmesse Jeune Peinture 97, Paris (G)
1996 „Hagener Künstlerinnen und Künstler“, Karl-Ernst-Osthaus-Museum, Hagen (G)
1994 „Hagener Künstlerinnen und Künstler“, Karl-Ernst-Osthaus-Museum, Hagen (G)
1993 „Nachtreisen“, Galerie Kunst vor Ort, Recklinghausen (E)
1990 Werkstatt-Galerie Mollardgasse, Wien (G)
(E) Einzelausstellungen   (G) Gruppenausstellungen