DISTANT VIEW – oder Sehnsuchtsorte ganz nah

Undurchdringliche Natur, Buschwerk oder dicht bewachsene Ufer. L’OMBRA DELLA SERA. Vielleicht wogen gleich davor die grünen Meereswellen der SEHNSUCHTSORTE; peitscht der Wind rund um Cap Corse die Farben durch die Brandung, sprüht goldene Gischt an Land. Im Süden der Insel, am kleinen Fluss Solenzara scheint der Sturm sich gelegt zu haben, wirbeln Kiesel und erdige Krumen vom Grund herauf.
In Evelyn Gardens Bildwelten treffen sanfte Energie und Lebensstrudel auf berstende Farbströme. Die Hitze des Südens, das Flirren der Sehnsucht, die Schatten der Nacht. Farben klingen, pulsieren und tönen. Wie die Geige, der Wassily Kandinsky in seiner Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ das Grün zuschreibt. Sie krachen wie das Zinnober der Trommel, das Rot der Fanfaren oder gehen in die Tiefe des Cellos, dem Kandinsky Blau zuordnet.

SEHNSUCHTSORTE

Evelyn Garden erschafft visuelle Erzählungen, phantastische Berichte von Verlust und Wandel und Vitalität. Doch anstelle des Abbilds der dinglichen, der materiellen Welt fokussiert sie Begrifflichkeiten des Abstrakten. Ein weiterer der SEHNSUCHTSORTE, die Arroscia, zeigt nicht den gleichnamigen Fluss, sondern den fließenden Zustand der Sehnsucht. Die Arroscia fließt durch Ligurien, der Region, in der Evelyn Gardens Sommeratelier liegt – Sehnsuchtsorte können also auch ganz nah sein, in ihrer eigenwilligen Existenz, die unsere Fantasie ihnen verleiht.

Dschungelartig bewachsen auch Letters from Silence. Stille sucht man in den quirligen Farbstrukturen vergebens. Wenn wir uns aber hineinbegeben, in dieses Geflecht aus dicht gesetzten Punkten und frei fließenden Linien, uns vom Gelb im unteren Bereich zum dominierenden Grün vortasten, in das sich im oberen Drittel dunkles Blau mischt, wenn wir also versuchen, die Stille im Dickicht der Farben zu hören, begegnet uns etwas Anderes als die herkömmliche Abwesenheit von Lärm und Geräuschen.

Den anderen in der Stille hören

Eine fast unheimliche Lautlosigkeit, in die sich plötzliche Stimmen und Wispern mischen, wie in einem Urwald. Töne aus weiter Ferne. Vielleicht das Kratzen der Feder des Absenders dieser Briefe aus der Stille. Es ist diese geschärfte Form der Wahrnehmung, die Claudio Abbado einmal als „den anderen in der Stille hören“ bezeichnet hat. Das Raunen des Windes, das Knistern von extremer Hitze in der Einsamkeit der Wüste, inmitten des weiten Meeres oder im Strudel der Stadt.

Gardens expressive Kompositionen bilden keinen konkreten Dschungel ab, keine Seestücke oder anmutige Veduten. Ebensowenig erklären die Titel die Bilder. Vielmehr bieten sie eine Art Steigbügel, eine Brücke zu Erlebnissen, Erfahrungen oder Eindrücken, die die Künstlerin in eine Farbigkeit von leidenschaftlicher Ausdruckskraft verwandelt. Rätselhafte, innere Landschaften, gefiltert durch den DISTANT VIEW.
Ein Geschenk an die Betrachter und Betrachterinnen, die in diese Bilder eintauchen und sich treiben lassen können, mit Linien und Drippings durch Flüsse, Gebirge oder Emotionen fließen können, an Punkten und Tupfern halt machen oder sich an pastosen Erhebungen festhalten können.

Ein farbtrunkener Rausch – der das Leben in seiner hellen, lebhaften Schönheit spiegelt, aber ebenso die dunklen Ecken und Kanten, die Abgründe und Tiefen. Gardens Farbpalette und ihr Duktus trotzen dabei selbst einem MELANCHOLISCHEN APRIL. Finden in der Auseinandersetzung mit dem Tod Wege, die das Dunkel nicht umschiffen, sondern in der Ansicht unserer Fassungslosigkeit überwinden, in Farben trotzender Wut sowie wachsender, wieder erwachender Hoffnung.

IN WACHSENDEN RINGEN

Am Anfang war der Kranz. Zueignung an einen Menschen in tiefer Verbundenheit. Gedenken. IN MEMORIAM – FÜR LIA. Aus ihm entstand die Serie rund um Rainer Maria Rilkes Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen. Der Ring als Zeichen der Verbundenheit und unserer Suche nach der Mitte. Auch das ein fragiles Unterfangen. IN WACHSENDEN RINGEN – RILKE 3 entsteht ein Schweben zwischen Auflösung und Wachstum. Blau und Rot – diese Kombattanten der Farbskala – im Duett. Das Kalte saugt das Energetische auf, doch das pulsierende Rot kann sich in seinen tonalen Varianten und Nuancierungen kraftvoll behaupten. Denn ART IS AN ESCAPE, NOT A DESTINATION – zitiert Evelyn Garden in einem ihrer Bilder Louise Bourgeois.

Evelyn Garden ist Malerin mit Leib und Seele und nicht minder enthusiastisch Lyrikerin. Aus diesen zwei Begabungen speist sich ihr Werk, verwebt sich ein kraftvoll, lebhafter Duktus mit zarten Wortgespinsten. Mal im übertragenen Sinne, dann wiederum ganz konkret. Titel wie „Es ist ein Mund im Feuer“ oder „Rätselhafte Antwort ungestellter Fragen“ unterstreichen oder erweitern die Farbstrukturen. Bisweilen halten collageartige Elemente – Worte und Schriftfetzen, Fotodetails und Papierschnipsel -, Einzug in ihre Bilder.

Zwischen diesen Polen entfaltet die in Berlin geborene Künstlerin eine Malerei, deren expressiver Gestus ganz im Banne der Farben und ihrer körperlichen Präsenz steht. Mit Leib und Seele eben. Wobei die Physis der Künstlerin, ihr lustvoller Umgang mit dem Material Farbe in jeder Farbschüttung, in jedem Spachtelzug oder in den direkten Spuren der Hände spürbar wird. Die Dynamik des Malakts überträgt sich gleichsam auf den Betrachter als unmittelbarer Eindruck von Spontaneität. Dabei beweist Evelyn Garden auch im spontanen Auftrag ihr außergewöhnliches Farbempfinden, das bis in die großen Formate stets zu einer sicheren, pointierten Gestaltung findet.

In ihrer Malerei wie in ihrer Lyrik bedient sich Evelyn Garden der surrealistischen Praxis der Écriture automatique. Doch entstehen daraus keine surrealen Bildwelten. Vielmehr schöpft sie Stimmungen, die zwischen einer vorbewussten Warhnehmung und dem Realen changieren. In denen sich aus Farbrhythmen allmählich Schichten der Wirklichkeit herauskristallisieren. Ein See oder Blumen, ein Berg oder die Wasserfälle von Arroscia, ein Regenspaziergang oder das Wogen der Meere. Abstrakte Formationen – der Natur abgelauscht oder den essentiellen Dingen des alltäglichen Daseins. Der Melancholie, der Freude oder Trauer oder einem Sommernachmittag unter dem Apfelbaum.

Von der Einsiedelei des künstlerischen Schaffens – gleich ob malend, zeichnend oder schreibend – führen Evelyn Gardens energievolle Farb-Passagen von den Ateliers der Künstlerin in Berlin und Ligurien bis in ferne Länder oder an die Gestade des nächtlichen Traums. Entfalten vielschichtige Passagen der Erinnerung.

Farb- und andere Ströme
Von Michaela Nolte

Beginnen wir im Atelier II. „In der | Kammer Nr. zehn | kauert die bleiche Bestie“, heißt es zu Beginn. Vielgestaltig können wir uns die Bestie vorstellen: der Horror Vacui des schreibenden wie des bildenden Künstlers. Bleich und weiß grinsend wie die Edamer Katze aus Alice im Wunderland, zähnefletschend bis zum ersten Wort, Farbton oder Pinselstrich. Doch wer kauert in den Kammern eins bis neun?

 

Aus den Kammern und Herzkammern spannt Evelyn Garden ihr feines Netz zwischen Lyrik und Malerei. Wenn der Pinsel ruht, entstehen ihre sprachlichen Kammer-Spiele en miniature, die hinausführen auf eine Reise in und um die Welt. Alternierend flechten sie ihre Fäden von der Einsiedelei des künstlerischen Schaffens – gleich ob schreibend, malend oder zeichnend -, von den Ateliers in Berlin und Ligurien, bis in ferne Länder oder an die Gestade des nächtlichen Traums.

 

In den Kammern nehmen die Erkundungen ihren Ausgang. Rundreisen mit poetischen Momentaufnahmen, die uns in aller Kürze das Vertraute – Spielarten des Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen – ebenso unmittelbar vor Augen führen wie die Atmosphäre des Fremden. Wortfarbklänge, in die wir Leser eintauchen, in denen wir uns wiederfinden können. Die Sprache als Punkt, Linie oder Farbklecks, legt sich in die Erinnerung, wie die Zeichenfeder auf das Blatt. Wortfunken wie plötzlich abbrechende Linien, die der Leser dann selbst wieder verknüpfen kann. Durch die der Sprachraum als Raum der Phantasie durchgeht.

 

Wer oder was ist er? Auf wen bezieht sich das Possessivpronomen im ersten Gedicht? Ist „seine Sahara“ die Wüste des Horizonts in der letzten Zeile oder ist es ein männliches Gegenüber? Die Wüste in all ihrer Einsamkeit und mittendrin die Figur eines Mannes, der ihre Weite besetzt. Eine Schimäre vielleicht. Denn das Flirren der heißen Luft ruft manch Trugbild hervor. Wie die „Sanftheit | ihrer Ferne“. Die Ferne der Wüste oder doch eine weitere, eine weibliche Figur? Das Alter Ego der Künstlerin? Die überwältigende Gestalt dieser endlosen Sandhügel ist sanft doch scheinbar nur: „zerbrachen beide | Blaue Linien | Zeichen am Horizont“. Nicht das Himmelsblau, das Ätherische tönt hier in der Landschaft. Das Blau leuchtet dunkel und körperlich. Die Linie, zerbrochen, lässt die Hoffnung zerschellen. Es klirrt das Blau.

 

Evelyn Gardens Sprach-Landschaften umkreisen die Natur als emotionale Projektionsfläche, die uns mit seidigem Septembernebel umgibt oder die Felsen der Sprache, die Brandung der Worte vor uns ausrollt wie die Steine im Meer. Die Bedeutungen und Konnotationen, die sie durch die lyrische Verknappung auslösen, wandern vom Außenraum ins Inwendige, öffnen die Kammern des Alltäglichen und von Ausnahmesituationen, die wir dann mit unseren eigenen Gedanken, unserem eigenen Erleben ausgestalten können.

Text zum gleichnamigen Gedichtband von 2012 Text zum gleichnamigen Gedichtband von 2012

Evelyn Garden, geboren in Berlin, lebt und arbeitet in Berlin und Ligurien.

Einzelausstellungen (Auswahl)

2015 „Circles“, Studio Ranzo, Imperia, Italien (Katalog)
2013 „Farb- und andere Ströme“, Galerie Mönch, Berlin (Katalog)
2009 „Summer Passage“, Doris-Rüstig-Ladewig-Stiftung, Schleswig
2007 „Malerei + Skulpturen“ (mit Ruth Gindhart), Remise Degewo, Berlin
2006 „no shores“, Galerie Mönch, Berlin (Katalog)
„no shores“, Galerie Kunst+, Wetzlar
2005 „Geheimer Garten“, Kirche am Tempelhofer Feld, Berlin
„Ströme  Risse  Resonanzen“, Galerie Schwartzsche Villa, Berlin (Katalog)
2001 “love, death + flowers”, Colt-Telecom, Berlin (Katalog)
“Neue Bilder”, Galerie Mönch, Berlin
1999 „Stanza della memoria“, Galerie Mönch, Berlin (Katalog)
1998 „Licht- und Schattenlinien – Assoziationen zu Rose Ausländer“, Deutsche Oper, Düsseldorf
„paintings + poems“, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin

 

Gruppenausstellungen (Auswahl)

2017 „KunstBoulevard · Malerei und Fotografie“, Kulturamt Steglitz-Zehlendorf Berlin (Katalog)
„Lichtwechsel“ (mit Bandelin, Mährlein), Wassergalerie, Berlin
„40 Jahre Galerie Mönch Berlin, Part II“ (mit Czempik, Feuchter, Klock, Mährlein, Sprenger)
2016 „Round Table 5“, Deutsche Bank, Berlin (Katalog)
2015 „Accrochage“, (mit Czempik, Dickel, Klock, Lauber), Galerie Mönch Berlin
2013 „Vom Verschwinden“, im Rahmen von KARAMBA, Hotel Bogota, Berlin
„Geblümt · Unverblümt“, KunstHaus Potsdam
2011 „Accrochage“ (mit Fussmann, Zabel, Dickel), Galerie Mönch Berlin
„stabile – instabile“, KunstHaus Potsdam
2010 „Landschaften“, Galerie Mönch Berlin
„Faszination Fragment“, KunstHaus Potsdam
2009 „Das Licht / Der Schatten / Die Kunst“, KunstHaus Potsdam
2008 „im quadrat · zum quadrat“, KunstHaus Potsdam
2007 „30 Jahre Galerie Mönch“ (mit Gindhart, Walter, Klock), Galerie Mönch Berlin
2006 „Abstract, real und vice versa“ (mit Fußmann, Malfatti, Zabel), Galerie Mönch Berlin
2004 „Kunstfest – Festkunst“, Galerie am Klostersee, Lehnin
„Landschaften“ (mit Fußmann, Dickel, Malfatti, Zabel), Galerie Mönch Berlin
2002 Galleria Ristori, Albenga (SV), Italien
„Gemalte Gärten”, Galerie Mutter Fourage, Berlin
1999 „Hallo mein Herz“, Wilhelm-Fabry-Museum, Hilden
1997 „20 Jahre Galerie Mönch“ (mit Maguire, Sieben), Galerie Mönch Berlin
1996 „Standpunkte“, (mit Müller-Klug, Jourdan-Koch), Galerie Mönch Berlin
1995 „Schwerpunkte · Blickpunkte · Standpunkte – Gruppe Neun2“, IG Halle, Rapperswil, Schweiz