Reiner Mährlein bevorzugt Eisen, Stein und Papier. Mit diesen so gegensätzlichen Materialien experimentiert der 1959 in Kaiserslautern geborene Bildhauer seit rund drei Jahrzehnten. Mährlein, der sein Studium an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg und der École nationale supérieure des beaux-arts de Paris absolvierte, findet im Rückgriff auf elementare Formen prägnante Durchdringungen ihrer jeweiligen Stofflichkeit und ebenso sinnliche wie kontrastreiche Dialoge von Gravitation und Leichtigkeit, von Volumen, Fläche und Raum.

Rede zur Ausstellungseröffnung MATERIA, CAROLA CZEMPIK (Malerei) und Reiner Mährlein (Skulptur), am 14. April 2018
Von Michaela Nolte
Wechselwirkungen

Eisen trifft auf Büttenpapier, Stahl trifft auf Granit und Letzterer wiederum auf Meerschaumpulver oder Alabaster, die sich mit Acryl und Wachs verbinden, mit Japanpapier und Leinwand.

Es sind besondere Stoffformationen – und ihre Reaktionen auf- und untereinander –, mit denen Carola Czempik und Reiner Mährlein das Verhältnis und die Bedingungen von Materie, Form und Inhalt erforschen.
Was die beiden Künstler verbindet, auch wenn oder gerade weil sie sich der Stofflichkeit in ganz gegensätzlichen Gattungen widmen, sind die vier Elemente.

In der Philosophie der Urstoffe unterscheidet Aristoteles zwischen der „Materia prima“ und der „Materia secunda“. Erstere ist nicht dinglich, sondern als metaphysisches Prinzip die Grundlage der vier Elemente, aus denen sich alles Stoffliche, alle Substanzen entfalten. Während die „Materia secunda“ bereits geformte Materie ist, also die einzelnen Dinge an sich, die sowohl aus Materie als auch aus Form bestehen.
Es geht also nicht nur um Material im Sinne des Werkstoffs, sondern im Hinblick auf die Substanz um die metaphysische Beschaffenheit und Wandelbarkeit von Materie. Es geht mithin um uralte, substanzielle Fragen.

In einer Zeit, in der sich die Dinge ins Stofflos-Virtuelle verlagern – digitale Hardware immer winziger und unser Handeln und Denken zunehmend von unsichtbaren Algorithmen gelenkt wird –, ist der Rückgriff auf die Vergangenheit durch den künstlerischen Blick der Gegenwart eine wichtige Möglichkeit, die Imaginationsräume der Zukunft anders zu sehen und vielleicht auch zu gestalten.
„Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit“, heißt es bei Ludwig Wittgenstein.
„Den Gegenständen entsprechen im Bild die Elemente des Bildes.
Das Bild ist eine Tatsache.“

Die Elemente des Bildes und ebenso der Plastik implizieren in der Kunst immer auch das Ausloten der formalen Möglichkeiten und Grenzen: der Malerei, und also der Fläche bei Carola Czempik, und der raumplastischen Aspekte bei Reiner Mährlein.

Reiner Mährlein und Frankreich

Werktitel wie Cintré à l’Âme, Ras le bol oder Passé verweisen auf Reiner Mährleins Beziehung zu Frankreich. Nach dem Studium bei Wilhelm Uhlig, an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg, ging er in den 1980er-Jahren zu Jean Cardot nach Paris, an die École nationale supérieure des beaux-arts. Beide Professoren stehen in der Tradition des Realismus, Cardot mit bisweilen abstrahierenden Tendenzen.
Anfänglich trugen auch Reiner Mährleins Skulpturen figürliche Züge. Denn, so der Künstler: „Das Festhalten an der Form gibt einem Sicherheit“. Mit der Zeit jedoch gelangte er über die Kombination von Stein und Stahl einerseits und das Experimentieren mit verschiedenen Techniken andererseits zu immer abstrakteren Formen.
Dabei waren die 1980er-Jahre gerade in der Bildhauerei von der Rückbesinnung auf die Figuration geprägt. Zum vorherrschenden Minimalismus und zur Konzeptkunst entstand eine Gegenbewegung.
Der Maler Georg Baselitz ging mit seinen expressiven Wesen in die dritte Dimension. Mährleins Zeitgenossen wie zum Beispiel Stephan Balkenhol oder Katharina Fritsch gaben der figürlichen Skulptur und Plastik Neue Impulse.

Materie und Durchdringung

Davon unbeeindruckt beschritt Reiner Mährlein andere Wege. Geometrische Körper im Raum faszinierten ihn, Künstler wie Eduardo Chillida oder Richard Serra haben ihn beeindruckt. Und anders als die Vertreter der konkreten Kunst oder der Minimal Art beschränkt sich Mährlein nicht allein auf formale Aspekte, sondern bringt – durch seine Formungen und durch das Gegen- und Miteinander kontrastierender Materie – eine sinnliche Ebene in die Abstraktion.
Im Hinblick auf die Stoffe, aus denen seine zwischen Skulptur und Plastik changierenden Werke sind, ist er der bildhauerischen Tradition allerdings treu geblieben. Arbeitet bevorzugt mit Eisen und mit Granit – dem, laut Goethe, „Urgrund der Welt“.

Was also hat einen jungen Künstler dazu bewegt, gerade in dieser Zeit seine Werke abseits des Mainstreams zu entwickeln? Ein Grund hierfür mag in Reiner Mährleins Werdegang liegen. Denn vor dem Kunststudium hat er eine Steinmetzlehre absolviert. Später fand er im Pariser Atelier eine alte Esse. In der Klasse von Jean Cardot ging es eigentlich um pure Stein- und Holzbildhauerei. Der gelernte Steinmetz allerdings schmiedete sein Werkzeug mit der Esse und fand so zum Eisenguss. Parallel schuf Mährlein seine ersten Stein- und Stahlverbindungen.
Aktuelle Beispiele dafür sind Passé und En Cube, in denen sich der roh behauene Granit in die gebogenen Stahlformen einfügt. Was Reiner Mährlein bis heute an diesem Kontrast fasziniert, ist die Wirkung des Granits, der, wie er sagt: „seine Masse auch im eingebauten Zustand behauptet.“

Papier und Skulptur

Ein weiteres zentrales Element ist das Papier. Was in der Bildhauerei höchst ungewöhnlich ist. Wir kennen es als Trägerstoff von Bildhauerzeichnungen und Skizzen. Aber als eigenständiger Bestandteil einer Skulptur? ‚Echte’ Bildhauer geben sich mit so einem labilen Material in der Regel nicht ab.
Anders Reiner Mährlein. Und hier kommt einmal mehr das Studium in Frankreich ins Spiel. Eine Biegemaschine zur Rundung von Blechen ist im Französischen „la cintreuse“. Reiner Mährlein benutzt eine solche Cintreuse wie eine Radierpresse, wodurch die Wirkung des Papiers alles andere als weich oder labil erscheint.
Für seine Prägungen benutzt er Granitformen oder Eisenplatten und verleiht dem Papier so eine bildhauerische Qualität. So scheinen kompakte, schwere Formen in seinen Rostmonotypien zu schweben. Gesteigert wird diese bildhauerische Qualität des Papiers in Arbeiten wie Cube oder Cintré à l’Âme – was man frei mit ‚gebogene Seele’ übersetzen kann. Kommt also doch wieder der Aspekt des Weichen und Fließenden hinzu. Doch in der Fachsprache des Handwerks bezeichnet die Seele zugleich den inneren Kern eines Kabels. Während in Cube das leichte Papier sich machtvoll gegen das schwere Eisen behauptet, verleiht es der gebogenen Seele in Cintré à l’Âme gar ihr stabiles Rückgrat.

Granit fließend

In den letzten drei Jahren hat Reiner Mährlein neue, andere Werk- und Materialprozesse entwickelt. Die Formen dieser Skulpturen lassen schmunzeln und schon die Titel stimmen einen witzig-ironischen Ton an. „Plus que plein“ und „Plus que vide“ – ob das Glas halb voll ist oder halb leer, liegt letztlich im Auge des Betrachters. Geradezu der Überdruss formiert sich in „Ras le bol“ und „Plus que ras le bol“. Was soviel wie „Mir reicht’s!“ bedeutet. Dem Granit, dieser Grundfeste der Bildhauerei, scheint seine Rolle nicht mehr zu behagen.

1784 schrieb Goethe: „Jeder Weg in unbekannte Gebirge bestätigte die alte Erfahrung, dass das Höchste und das Tiefste Granit sei, dass diese Steinart, die man nun näher kennen und von andern unterscheiden lernte, die Grundfeste unserer Erde sei, worauf sich alle übrigen mannigfaltigen Gebirge hinaufgebildet.“
Wissenschaftlich wurde der Geheimrat mittlerweile widerlegt. Gehört doch der Granit zu den magmatischen Gesteinen – ist also von seinem Wesen her flüssig. In seinen neuen Skulpturen verweist Reiner Mährlein auf den magmatischen Ursprung des Steins, über den der Bildhauer sagt: „Er quillt aus dem Sockel hervor, wie im grimmschen Märchen der süße Brei.“

Biographie:

1959 geboren in Kaiserslautern
1982-1985 Akademie der Bildenden Künste Nürnberg, bei Professor Wilhelm Uhlig
1986-1989 École nationale supérieure des beaux-arts de Paris, bei Professor Jean Cardot
Reiner Mährlein lebt und arbeitet in Rothselberg und Kaiserslautern

Einzelausstellungen (Auswahl)

2018 Galerie Mönch Berlin Materia (mit Carola Czempik)
2017 Wassergalerie, Berlin Lichtwechsel (mit Evelyn Garden und Karin Bandelin)
2016 Galerie Mainzer Kunst
Galerie m50, Oberursel
Kunstverein Dahn (mit Veronika Olma und Katja Wunderling)
2015 Galerie Mönch Berlin (mit Benno Noll)
2014 Zeughaus, Kunstverein Germersheim
if ART Gallery, Columbia SC, USA
2012 Zehnthaus, Jockgrim
2011 Galerie m50, Frankfurt am Main
Bis jetzt, Wollmagazin, Kaiserslautern
2008 if ART Gallery, Columbia SC, USA
Galerie Mönch Berlin
2007 Galerie im Unterhammer, Karlstal bei Kaiserslautern
2006 Kunst in der Kantine, FA. Eckelmann, Wiesbaden
2005 Galerie in der TU, Kaiserslautern
2004 Deutsche Werkstätten Hellerau, Dresden
Galerie Mönch Berlin
2003 Pfalzbibliothek, Kaiserslautern
Lewis & Clark Gallery, Columbia S.C., USA
2000 Landtag Rheinland-Pfalz, Mainz
Landesgartenschau, Kaiserslautern
1998 Galerie Schmitt – Zulauf, Freinsheim
1997 Kahnweilerhaus, Rockenhausen
1996 Pfalztheater Kaiserslautern
1995 Galerie de Lorenzi, Luxemburg
1994 Kunstverein Neustadt/Weinstraße
1992 Galerie Schmitt – Zulauf, Freinsheim
1991 Kulturzentrum Kammgarn, Kaiserslautern
1989 Galerie Waldherr, Kirchheimbolanden

Gruppenausstellungen (Auswahl)

2017 Galerie Mönch Berlin Im Bild bleibt die Zeit stehen – 40 Jahre Galerie Mönch, Part II
2015 Im Quadrat, 15 Jahre KWG Kaiserslautern, Volksbank Kaiserslautern
2014 ROT, Galerie m50, Frankfurt
2013 Pfalzstahl, Galerie Ritter, Neustadt/Weinstraße
2012 weiß und schwarz, Galerie m50, Frankfurt
Material Papier, Galerie Mönch Berlin
2011 Albert- Haueisen – Preis, Jockgrim
2010 Große Kunstausstellung, Kunsthaus Nürnberg
2009 Ars Palatina, Château de Vianden, Luxemburg
2008 Interferenzen, Ars Palatina, Tufa Trier
Schöpfungszeiten, Stadtmuseum Villa Böhm, Neustadt/Weinstraße
2007 if ART Gallery, Columbia SC, USA
2006 Positionen zeitgenössischer Plastik, Kulturhof, Speyer
2003 Garage Art Project, South Carolina State Museum, Columbia SC, USA
2000 Streiflichter 125 Jahre Pfalzgalerie
1997 Start 97, Messe für Zeitgenössische Kunst, Strassbourg
1995 Pfalzpreisausstellung für Grafik und Plastik, Pfalzgalerie Kaiserslautern
1994 Kahnweiler-Preis-Ausstellung, Rockenhausen
1993 Kunstmesse Rheinland-Pfalz, Pirmasens/Mainz
1990 Jahresausstellungen der APK, Kunst und Künstler in Rheinland–Pfalz
Hans-Purrmann-Preis, Speyer
Salon Internationale de la Sculpture Contemporaine
1989 Jeune Sulpture, Montbéliard
1988 Palazzo Colonna, Marino
1986 Académie des Beaux Arts, Paris
Salon des Artistes Français, Grand Palais Paris

Internationale Bildhauersymposien und Projekte

2016 ihochx, Kunstsymposion der KWG mit Künstlern aus Columbia S.C. USA,
Uni-Campus Kaiserslautern
2014 Weg mit Kunst, Internationales Kunstsymposion, Kaiserslautern
2013 Plakat Wand Kunst, Kunstprojekt im öffentlichen Raum, Uni-Campus Kaiserslautern
Myzel, Kunstaktion der KWG, Kaiserslautern
2011 Romantik Internationales Kunstsymposion der KWG, Kaiserslautern
2010 Internationales Kunstsymposion, Banja Luka, Bosnien und Herzegowina
2008
2007 Internationales Kunstsymposion, Banja Luka, Bosnien und Herzegowina
2006 Internationales Kunstsymposion, Banja Luka, Bosnien und Herzegowina
Internationales Bildhauersymposion, Kaiserslautern
2005 Buch Objekt Internationales Kunstsymposion, Kaiserslautern
2004 Little Size/Kleinformat Kunstaktion der KWG mit Künstlern aus Columbia S.C. USA
2002 Pfälzer Kunstdialog, Pfalzgalerie, Kaiserslautern
With – Without Distance Kunstaktion der KWG mit Künstlern aus Columbia S.C.
2001 City Garage Project, Columbia S.C. USA
Heimat Kunstaktion der KWG, Museum im Westrich, Ramstein
2000 Internationales Bildhauersymposion in Kaiserslautern
1997 Internationales Bildhauersymposion in Germersheim
1996 Internationales Bildhauersymposion in Banska Stiavnica, Slowakische Republik
1995 Prometheus – Epimetheus Kunstaktion mit bildenden und darstellenden Künstlern, Kaiserslautern
1989 Internationales Bildhauersymposion in Digne-Les-Bains, Frankreich
1988 Internationales Bildhauersymposion, Marino, Italien