Das Buch zur Serie | Edition Patrick Frey
Das Kunstmagazin art über die Aquarelle von Thomas Müllenbach
Eine bewegte Figur, nur wenig voluminöser als die Linien, aus denen sie erwächst, hält selbige fest. Hält die Stellung: auf dem Blatt von Thomas Müllenbach, an einer Straßen- oder Raumecke. Der Titel des DIN-A-4 großen respektive kleinen Blattes heißt „hold the line“. Die Jüngeren mögen an Songs der Rockband Toto oder der Sängerin Jeannette Biedermann denken, die Älteren kennen diesen Satz aus Zeiten, in denen Warteschleifen am Telefon noch nicht mit Computeransagen, Jingles und Funktionsmusik aufgepeppt wurden, sondern eine freundliche Dame sagte: Bitte bleiben Sie in der Leitung! Please hold the line. Thomas Müllenbach hat die Sentenz nicht idiomatisch korrekt übersetzt, sondern auf seine typisch lakonische Art wörtlich genommen. Und verweist mit wenigen Graphitstrichen zugleich auf die Geschichte der Zeichnung.
Denn der Kunstmarkt hat dieses älteste künstlerische Medium in jüngster Zeit derart gefeiert, als hätten Künstler den Zeichenstift in den letzten Jahrzehnten bei Seite gelegt. Dabei sind die Künstler aller Epochen, jedweder Gattung und stilistischen Richtung stets in der Leitung geblieben. So möchten wir den Ausstellungstitel – und ich denke, das ist ganz im Sinne Thomas Müllenbachs -, auch als freundliche Aufforderung verstehen, an der Linie, an der Zeichnung festzuhalten.
Thomas Müllenbach generiert Wesen, Orte und Zwischenräume von äußerster Verknappung aus der Linie. Zeitgenössische Miniaturen, die zwischen Minimal und Kürzest-Geschichte verblüffende Bildräume und -welten eröffnen. So, wenn in „Strandleben“ ein Taucher, der ein wenig wie ein begossener Pudel aussieht, verdutzt auf eine Laterne blickt, die wiederum an Alberto Giacomettis Baum denken lässt, den der Schweizer Künstler 1961 auf Wunsch von Samuel Beckett für ein Bühnenbild zu Warten auf Godot schuf. In einer weiteren Zeichnung Müllenbachs beobachtet Giacometti höchstselbst Jeff Koons in Gestalt des Ballon Dogs. Neidlos natürlich. Denn Koons’ 43-Millionen-Pudel hat der Zeigende Mann von Giacometti jüngst um fast das Dreifache überflügelt. Wir wissen nicht, ob die schweizerische Nationalbank den 100-Franken-Schein nun ändern wird. Denn den ziert Alberto Giacomettis Schreitender Mann, der vor fünf Jahren aber auch schon stolze 70 Millionen netto einspielte.
Überflügelt hat Giacometti Koons aber vor allem von jeher künstlerisch und zwar „Mit großen Schritten“ wie eine andere Zeichnung Müllenbachs heißt. Die zeigt zwei ebenso locker wie ironisch konturierte Figuren, deren Bein mit dem jeweils großen Schritt geradezu schmerzhaft überdehnt ist. So, als hätten diese Schreitenden sich gehörig übernommen. Zudem scheinen sie in der Mittagssonne zu gehen, wo kurze Schatten vorherrschen.
In Walter Benjamin Lesestück Kurze Schatten heißt es: „Wenn es gegen Mittag geht, sind die Schatten nur noch die schwarzen, scharfen Ränder am Fuß der Dinge und in Bereitschaft, lautlos, unversehens, in ihren Bau, in ihr Geheimnis sich zurückzuziehen. Dann ist, in ihrer gedrängten, deduckten Fülle die Stunde Zarathustras gekommen, des Denkers im >>Lebensmittag<<, im >>Sommergarten<<. Denn die Erkenntnis umreißt wie die Sonne auf der Höhe ihrer Bahn die Dinge am strengsten.“ Nun ist derart die Erkenntnis nicht jedem – zumal nicht uns Alltagsmenschen gegeben -, und bei allen kunsthistorischen Bezügen und Winkelzügen spielt bei Thomas Müllenbach immer auch der Alltag des Menschen, das Beiläufige und Banale eine wichtige Rolle. Gleich ob es sich um „Das große Sehnen“ dreht oder um den „Augenaufschlag“ – der den Charakter der zwei Schönen in Rückansicht allein in den Wimpern erahnen lässt -, um den erotischen „Beinwinkel“ oder um „Hair“, das über dem Busenfragment aus der Achselhöhle lugt.
Von der „konstruktiven Nase“ bis zum „Schielen auf die Konstruktion“ und selbst in der Serie der schwarzen Zeichnungen verquicken sich Kunstgeschichte und Alltag aufs Herrlichste. In „black curtain“ scheint Malewitschs Schwarzes Quadrat aus der Form geraten, in „black floor“ hat die Minimal-Skulptur von Carl Andre Risse bekommen. Und hinter die Beschränkung auf das Quasi-Nichts – mit dem die Künstler der New York School seit den 50ern das monochrome Schwarz zur heiligen Farbe erklärten -, setzt Müllenbach ein augenzwinkerndes Fragezeichen.
Dabei erweist sich der 1949 in Koblenz geborene Maler, der seit den 70er-Jahren in Zürich lebt, selbst als ein Meister der Kurzform und des zeichnerischen Minimalismus. Der Weg vom Auge zur Hand, vom Erleben zum Motiv, scheint so unmittelbar und ohne Umwege, dass man meinen könnte, der Sehnerv führe hier den Graphistift. Den absichtslosen Blick nennt Müllenbach das. Im Fokus auf das so ins Zentrum gerückte Beiläufige oder Unscheinbare ist das große Ganze ebenso reduziert wie pointiert in den kuriosen Details und Rudimenten mitgedacht.
Thomas Müllenbach bürstet das Urelement der Zeichnung gegen den Strich. Wie ein Flaneur streift er Begegnungen und Menschen, Geschichte und Kunstgeschichte. Fokussiert scheinbar Beiläufiges, aus dem mit minimalen Linien vielschichtige Fäden der Wirklichkeit entstehen. Ein „Soldat“ mit beunruhigend kindlichem Antlitz, ein „Sockel“, dessen Statue sich zu eigenwilliger Perspektivität formt, „Vier Beine“ im Spiel von erotischer Annäherung, Gewalt oder Tod.
Parallel zur Malerei des 1949 in Koblenz geborenen Künstlers – der seit 1972 in Zürich lebt und von 1989-2015 eine Professur an der Zürcher Hochschule der Künste innehatte -, ist die Zeichnung zu einer eigenen Ausdrucksform geworden. Mit seinem unmittelbaren und vibrierenden Strich hat Thomas Müllenbach eine figurative Abstraktion entwickelt, in der er sich als Meister der äußersten Konzentration erweist. Beobachtungen aus dem Augenwinkel fallen auf das Blatt – gerade so flüchtig wie sie vorüberziehen. Mit wenigen Linien entfaltet der Künstler einen komplexen und zugleich humorvollen Kosmos. Fragmentiert die Ambivalenz des Daseins zur Kenntlichkeit.
„Entspannt“ sitzt eine Figur vor einer Kirche. Im Vordergrund: zwei Beine, ein Arm. Jede weitere Körperlichkeit oder das Sitzmöbel sind ausgeblendet. Das winzige Gotteshaus steht am gekrümmten Horizont. Das Auge pendelt zwischen Innen- und Außenraum, von den imaginären Mauern eines Hauses hin zur offenen Landschaft, in der die Figur sich ebenso befinden könnte. Der sparsam eingesetzte Graphitstift steigert den Hell-Dunkel-Kontrast und verleiht den weißen Flächen einen Eigenwert. Eine Art Freiraum, der zur Projektionsfläche für den Betrachter wird. Zur Herausforderung, die kuriosen Momentaufnahmen mit den eigenen Geschichten zu vollenden.
Ist es bei den Zeichnungen Thomas Müllenbachs lakonischer Strich, so besticht die Serie „Halb-Original“ (1000 Aquarelle, die in den letzten sieben Jahren entstanden sind) nicht zuletzt durch das augenzwinkernde Konzept. Als Vorlage zu den Motiven dienten ihm zugesandte Einladungskarten zu Ausstellungen von Kollegen.
Biographie
1949 | geboren in Koblenz |
1989-2015 | Professur für Malerei und Zeichnung an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) |
Thomas Müllenbach lebt und arbeitet in Zürich und Gaboins (Frankreich) |
Einzelausstellungen (Auswahl):
2015 | Katz Contemporary, Zürich |
2014 | Kunsthalle Zürich |
2013 | linientreu, Galerie Mönch Berlin |
2011 | Halb-Orignal, Rotwand, Zürich |
2010 | Geldräume, KunstZeugHaus, Rapperswil |
2007 | Graphit, Kunsthaus Zürich
J’ai fait exprès – dessins pour Le Corbusier, Fondation Suisse, Paris |
2006 | Galerie Staubkohler, Zürich |
2005 | Kunsthalle Winterthur |
2004 | Kunstverein Freiburg i. Br. |
2002 | Galerie Hans-Trudel-Haus, Baden
Erfrischungsraum HGK, Luzern |
2000 | Kunsthalle St. Gallen |
1999 | Scalo Galerie, Zürich |
1997 | Galerie Brandstetter & Wyss, Zürich
Kunstmuseum Heidenheim |
1996 | Anna Leonowans Gallery, Halifax, Canada |
1994 | Helmhaus Zürich |
1992 | Kunstmuseum des Kantons Thurgau, Kartause lttingen
Albrecht Dürer Gesellschaft, Nürnberg Galerie Nisple, St. Gallen |
1991 | Galerie Brandstetter & Wyss
Castel Burio, Costigliole d ‚Asti |
1989 | Galerie Brandstetter & Wyss, Zürich |
1987 | Graphische Sammlung der ETH Zürich
Galerie Emmerich-Baumann, Zürich |
1986 | Artinizing, München
Kunstmuseum Luzern |
1985 | Galerie Andre Emmerich, Zürich |
1984 | Raum für aktuelle Kunst, Luzern
Galerie Rivolta, Lausanne |
1983 | Kunstmuseum Winterthur |
1980 | Kunsthaus Zürich |
Gruppenausstellungen (Auswahl):
2017 | Im Bild bleibt die Zeit stehen · Part IV, 40 Jahre Galerie Mönch Berlin |
2015 | Recent Drawings and his Collection of Works by Former Students, Kunstraum 5.K12 (ZHdK), Zürich hold the line (mit Max Hari und Franti?ek Klossner), Galerie Mönch Berlin |
2013 | Fahrhabe und die Mythen des Alltags, Die Mobiliar, Bern |
2011 | Aquarell, Museum PasquArt, Biel |
2006 | Nouvelles collections, Edition 5, Centre PasquArt, Biel Vom Schweifen der Linien, Zeitgenössische Zeichnungspositionen, Seedamm Kulturzentrum, Pfäffikon |
2005 | Rundlederwelten, Fussball, Martin-Gropius-Bau, Berlin |
2001 | Peter Kneubühler : Gut zum Druck, Helmhaus Zürich |
1996 | Stilleben, Helmhaus Zürich |
1991 | 20 Jahre Trudelhaus, Galerie Hans-Trudel-Haus, Baden |
1990 | Schweizer Grafik der Achtziger Jahre aus den Beständen, Kunsthaus Zürich |
1989 | Unikat + Edition, Helmhaus Zürich |
1987 | Offenes Ende, Institut für moderne Kunst, Nürnberg |
1986 | Ohne die Rose tun wir’s nicht: für Joseph Beuys, Galerie Edition Staeck, Heidelberg |
1985 | Aspekte Schweizer Malerei, Fundação Calouste Gulbenkian, Lissabon |
1984 | Aspekte Schweizer Malerei, Fundació Joan Miró, Barcelona |
1983 | Aktuell 83, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München |
1982 | Neue Kunst aus Schaffhauser Sammlungen, Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen |
1979 | Sonderschau Kunst in der Schweiz, Art Basel 1. Triennale der Zeichnung, Kunsthalle Nürnberg |
1978 | Aktualität Vergangenheit, 3. Biennale der Schweizer Kunst, Kunstmuseum Winterthur Le Dessin en Suisse, Musée Rath, Genf |