Das Bild als Zeitmaschine und Möglichkeitssinn
Von Michaela Nolte

Vier weiße und blaue Farbfelder in unterschiedlichen Hell- und Dunkelstufungen. Leicht diaphane und verwischte Schichtungen, verleihen in „Transit 2“ den zarten Farben ihre sinnliche Kraft.

Darauf türmen sich kräftige Konturen und lockere Schwünge aus schwarzer Kreide, ballen sich zu urban anmutenden Strukturen zusammen. Schriftzüge, die an Werbetafeln auf Hausfassaden erinnern, lugen oben im Hintergrund hervor, ohne ihre Botschaften preiszugeben.

Im unteren Bildbereich vertikal einmontiert finden sich ebenfalls Worte, die kaum zu enträtseln sind. Über die komplette Bildhälfte handschriftlich geschrieben steht: TRansit. Emporsteigend, geradewegs hochschießend, mitten durch die rätselhafte Architektur.

Helmut Klock organisiert seine wunderbar narrativen, rätselhaften und poetischen Bilder aus scheinbaren Gegensätzen. Wir sehen zum einen den grafisch eher streng geordneten Bildaufbau und im Kontrast dazu aleatorisch bewegte und expressive Strukturen.

In diesem Spannungsfeld entwickelt der Künstler einen offenen Dialog. Lässt die geometrisch angeordneten Farbkompositionen auf assoziative zeichnerische Elemente treffen oder wie Helmut Klock es ausdrückt, gehe es ihm um ein Zwiegespräch zwischen Malerei und Zeichnung.

So entsteht auch ein Dialog zwischen den Farben, den Randzonen und dem Binnenraum. Das Bild „Am Rand unterwegs“ thematisiert dieses Phänomen gleich im Titel auf witzige sowie auf formal spannende Weise innerhalb des Bildes, wenn ausgerechnet die schmalen, linearen Ränder gedanklich in Bewegung versetzt werden, die Phantasie beflügeln und unsere Wahrnehmung schärfen. Die Zwischenräume der Dichotomie von Innen und Außen werden zu einer munteren Gratwanderung mit allerlei Zwischentönen.

Auf den Farbflächen wechseln schwingende Linien mit Diagonalen oder Vertikalen, mit Schriftzeichen, Collagen oder in Wachs getränkten Papieren, mit Spiegelungen und phantastischen Architekturen. Diese Momente und Gegenstände wie eigens gesammelte Lavaasche, benutzte Arbeitshandschuhe und farbige Neonröhren, verweisen auf außerbildliche Wirklichkeiten.

Geometrisches und Expressives, aus der Farbe Geborgenes und Collagiertes bewegen sich aufeinander zu, vereinen sich und kreisen fruchtbar umeinander — ohne sich disputierend zu verhaken.

Die Offenheit des strukturellen Geschehens spiegelt sich in den freien Interpretationsmöglichkeiten, die der Künstler provoziert oder zumindest bewusst gelten lässt.

Auf die Bemerkung, dass das mit schwungvoller Handschrift ins Bild gesetzte und von schraffurartigen Linien überlagerte Wort ‚Rand‘ auch als ‚Rauch‘ gelesen werden könne, entgegnet Helmut Klock, dass sich auch das im Bereich des Möglichen bewege, da die amorphen, schwarzen Strukturen im linken oberen Viertel des Bildes durchaus an Rauch erinnern können.

Ob am Rande oder im Rauch, zwischen Hochhaus- oder urbanen Schluchten wir bewegen uns auf einem fröhlichen Road Trip, unterwegs durch Helmut Klocks Zeitschleifen — „looking back — forward“. Schon der Titel der  Ausstellung und des Katalogs weckt die Vorstellung von Bewegung und Geschwindigkeit. Das Bild als Zeitmaschine.

„looking back — forward“ steht aber auch für Helmut Klocks Bezug zu künstlerischen Vorbildern. Zu Malern wie Paul Klee, Giorgio Morandi oder Joan Miró, deren Werke kunsthistorisch abgeschlossen sind und die Helmut Klock in seinen eigenen Arbeiten sehr frei weiterdenkt.

Eine neuere Serie, die das Motiv des Polyeders variiert, ist inspiriert von Albrecht Dürers 1514 entstandenem Kupferstich „Melencolia I“. 

Doch nicht die Melancholie als solche interessiert Helmut Klock, sondern das Geheimnis dieses vielflächigen Körpers, der sich, wenngleich er im Bild Dürers eine prominente Roll einnimmt, ikonologisch bis heute einer eindeutigen symbolischen Einordnung entzieht. Außerdem, sagt der Maler und Zeichner, habe er immer schon gerne räumliche Berechnungen angestellt.

Rund um den Polyeder aus verschieden wasserblauen Tönen finden wir in „Ort P“ rätselhafte Gebilde. Auf der rechten Seite wird der Vielflächner von frei schwebenden Stufen flankiert, im Hintergrund links von einer turmartigen Architektur. Dazwischen ragen Linien wie überdimensionale Mikado-Stäbe in den Himmel. Gerade oder diagonal ausgerichtet, eine fragile Angelegenheit; so, als wollten sie im nächsten Moment kippen. Darüber eine alles überragende Wolke in dunklem Königsblau bis Schwarz. Unseren Blick allerdings bestimmt im Zentrum der Polyeder, der wie ein geometrisch geformter Meteorit über dem „Ort P“ leuchtet.

In „Ort Klee“ begegnen uns hell- bis mittelblaue und violette Rechtecke, Parallelogramme und gelbe Dreiecke, die auf ihrer Gegenkathete stehen. Sie bilden Turmspitzen auf Bauten oder im freien Fall. Von rechts her zieht eine weiße Wand in das Bild. Überlagert die farbigen Strukturen, scheint sie auszuwischen. Ein roter Halbkreis schwebt über den ORT mit dem vertikal gespiegelten R – mondartig, traumverloren.

Auf und durch diese geometrischen Formen ziehen Treppenstiegen, die meist hinabführen; aber nicht zwingend. Manche von Klocks Treppen eignen sich auch zum Hinaufstolpern, wie in „Ort P“ oder „Magischer Ort“.

Auf den Spuren von Richard Diebenkorn ist Helmut Klock 2014 mit dem Fahrrad durch Kalifornien gefahren, hat das Atelier-Haus des 1993 verstorbenen US-Künstlers besucht, diverse Museen, darunter das Orange County Museum, das Diebenkorns berühmte Serie „Ocean Park“ beherbergt, mit der der Künstler nach einem Ausflug in die Figuration in den 1970er Jahren zur Abstraktion zurückkehrte. Richard Diebenkorn war vor allem von Henri Matisse beeinflusst, Helmut Klock ist, wie er sagt: „Mit der Diebenkorn-Brille durch Kalifornien geradelt.“

Dem kalifornischen Licht, das er seinerzeit eingesogen hat, begegnen wir im Farbspiel von „Santa Monica“ ebenso wie dem Blau des Stillen Ozeans.

Ein Bild mit einem weiteren kunsthistorischen Bezug ist „L.F. adaptiert“, das sich auf Lyonel Feiningers 1923 entstandenen „Wolken überm Meer I“ bezieht. Der Bauhaus-Künstler wiederum hat sich im Bildaufbau an Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ angelehnt.

Feiningers kühne und radikale Vision des Firmaments erhält bei Klock eine andere Farbigkeit und steht mitsamt den beiden Figuren auf dem Kopf. In seiner Büchner-Preis-Rede „Der Meridian“ sagte Paul Celan bezugnehmend auf Büchners „Woyzeck“: „Wer auf dem Kopf geht, hat den Himmel als Abgrund unter sich.“

In den Bildern von Helmut Klock evoziert der Abgrund die Möglichkeit von strahlendem Himmelblau.

Berlin, im März 2024

Flaneur der Traumwerkstadt
Von Michaela Nolte

Farbräume aus Tintenschwarzviolett und Taubengrau. Der Blick verkantet sich im Kupferzimmer, findet Halt am weißen Pfosten, taucht ab ins leuchtende Blau. Klettern mag wer will, entlang der Leiter in Untiefen, wo das Pfeilerweiß sich in Wasserbläschen auflöst. Strudelt. Nun heißt es entscheiden: Vorbei am gelbgrauen Echolot, tief Luft geholt und weiter ins Tintendunkel? Oder zurück zur Oberfläche kraxeln an einer Leuchtstoffröhre? Die wird zum klaren Kontur eines Hauses. Der Boden unter den Füßen verdeckt ungewisse Tiefe. Machen wir uns auf in die Stadt.

Wie reist es sich durch vage Städte und undefinierte Orte auf den Landkarten der Erinnerung kühlt heiße Minze. Nimmt den Staub der Hitze von Lippen und Seele. Da ist ein Geschrei in den Höfen. Unsichtbar. Rotes Murmeln plötzlich auf rosa Gestein. Der Klang eines Rebab durchweht streichend den Spalt zwischen Hausfassaden. Der Marktplatz rückt in die Betrachtung. Sichtbar wird er nicht.

Orte und Nicht-Orte, an denen wir hellwach nie waren. Unbestimmte Städte dicht gedrängt. Heim, Behausung, Traumwerk im Sandgebirge. Sie sitzen auf Holzbänken, fein gewebtem Teppich. Der Lehnsessel gehört in eine andere Welt. Die grüßt auf goldenen Stufen, umkreist im Goldenen Schnitt von Neonlicht. Vertraute Fremde strahlt über karstige Erde, auf Mauerwerk und fragile Treppen.

„ein treffen südlich des atlas“ schreibt Helmut Klock. Die Neonröhre verschiebt Raum, Zeit und Kolorit. Acryl- und Spachteltechnik reiben sich an der elektrischen Zusatzfarbe. Auch die schwarzen Kreidezeichen. Von den archaischen Architekturen ins Lichtermeer der Moderne schillern „Vage Städte“ und „Vertraute Unbekannte“. Lehmhüttendorf und Hochhausschlucht – in der Schwebe von Introspektion und Außenansicht.

Im Neon strahlt die grüne Landschaft blau wie das Meer, das Weiß der Fassaden glimmt feuerrot. „die taschenspieler schieben die wände von fall zu fall“, so der Künstler. „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, denkt Ludwig Wittgenstein.

Malend und zeichnend, spachtelnd und montierend wandert Helmut Klock durch „Die Unsichtbaren Städte“ von Italo Calvino. 55 Miniaturen um Marco Polo und Kublai Khan. Filigrane Wortbildschöpfungen, dem Kosmos eines Paul Klee anverwandt. Ins Lavendelrot nistet sich das R aus der Villa des Schweizers. Auch Klee hatte sein „treffen südlich des atlas“. Die brennenden Farben der Tunisreise 1914, fünf Jahre vor der „Villa R“.

Von dort geht es zum Wostoksee. Im Bild reflektiert das Blaue Leuchten 4000 Meter unter dem Eispanzer. Dem treibt menschlicher Wissensdurst im Lichte der Aufklärung den Ewigkeitsanspruch aus. Bis in den allerletzten Winkel bringt der Fortschritt den Durchbruch. Neue Viren bringt er auch. Die architektonischen Kürzel assoziieren die Antarktis-Station ebenso wie die Wüstenoasen.

Wenn der Kahn auf Arnold Böcklins „Toteninsel“ zuschippert, warten dort Oleander- und Safran-Gassen. Das nordische Sinnbild des Fin de Siècle im Hellblau des Südens. In welchem der Meere ist „Die Toteninsel“ angesiedelt? Fünf Ozeane und fünf Fassungen. Gefertigt hat der Schweizer Maler sie zwischen 1880 und 1886 in Florenz. An eine Auftraggeberin schrieb Böcklin: „Sie werden sich hineinträumen können in die dunkle Welt der Schatten, bis Sie den leisen, lauen Hauch zu fühlen glauben, der das Meer kräuselt.“

Die Wasser, sie haben sich in Helmut Klocks Adaption beruhigt. Die Oberfläche glänzt plan im Königsblau, die Felsen sanft terracottafarben und aus dem Böcklin’schen Wald schält sich das fremde Stadt-Massiv.

„Kehrte nun die andere Fauna aus den Bibliothekskellern“, heißt es in Calvinos Dichtung sehr frei nach Marco Polo. Der Reisebericht des Venezianers vielleicht selbst Fiktion. Forscher zermartern Hirne und Messgerät über „Die Wunder der Welt“. Seit über 700 Jahren. Zum runden Jubiläum 1993 ehrt Nam June Paik Il Milione mit einer Skulptur. Der kulturelle Nomade mit mongolischen Wurzeln entwirft „Marco Polo“ als blumengeschmücktes Denkmuster im VW-Käfer, samt Kühlschrank und Fernsehmonitoren. Der Beitrag des Koreaners für den Deutschen Pavillon durchstreift die Giardini der Biennale di Venezia bis Ulan Bator. Am Anfang seiner „Unsichtbaren Städte“ schreibt Calvino: „Es ist nicht gesagt, daß Kublai Khan alles glaubt, was Marco Polo erzählt.“

Aus eigenen Exkursionen und literarischen Reisen im Kopf entstehen luzide Nebel der Phantasie. Überlagerungen im typischen Helmut Klock-Duktus. In seiner Farbigkeit und seinen Materialschichtungen aus Traum und Realität, aus Abstraktion und figurativen Anspielungen erscheinen die Städte wie Halluzinationen. Bilder wie Fata Morganen. Denn, so Wittgenstein: „Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein.“

Berlin, im September 2012

Biographie

Geboren 1946

Studium an der Hochschule für bildende Künste Kassel Malerei | Kunsterziehung

Helmut Klock lebt und arbeitet in Berlin.