Barbara Camilla Tucholski ARKADIEN
Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung am 20. September 2008 - Von Michaela Nolte

Arkadien – Land der Idylle, Ort des Goldenen Zeitalters. Als Sehnsuchts-Mythos vielfach gemalt, besungen und dargestellt. Nicolas Poussin malte seine berühmte „Hirten von Arkadien“, Novalis stimmte freudig an: „Auch ich bin in Arkadien geboren“, während Friedrich Schiller mit dem Satz „Auch ich war in Arkadien geboren“ sein Gedicht „Resignation“ beginnt. Als „Hirtengesänge – frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm“ bezeichnete Ludwig van Beethoven den letzten Satz seiner 6. Symphonie, die dadurch den Beinamen „Pastorale“ bekam.

Et in Arcadia Ego – das freie, unbelastete Dasein in der idyllischen Natur. Barbara Camilla Tucholski hinterfragt dieses Ideal und verlegt Arkadien nach Loitz, einem kleinen Städtchen an der Peene, in Vorpommern: Plattenbauten, enge, verwinkelte Straßenzüge, Laternen und einfache, sehr einfache, schmucklose Häuser erzählen von einer Gegend, in der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Dieses Loitz verdichtet Barbara Camilla Tucholski in ihren Zeichnungen mit stiller, emotionaler Kraft. Ein Sehnsuchtsort aber gänzlich unsentimental.

Der Zyklus ist zwischen 1989 und 2004 entstanden. Barbara Camilla Tucholski wurde 1947 in Loitz geboren. Die Zeitläufte, die Geschichte der deutschen Teilung haben die Künstlerin und ihre Familie von Loitz in den Westen vertrieben. Die Zeit nach der Flucht geht mit häufigen Wohnortwechseln einher. Die Familie siedelt sich schließlich im Ruhrgebiet an. Von dort ist Düsseldorf nicht weit, wo Barbara Camilla Tucholski ab 1970 die Kunstakademie besucht und das Studium 1976 als Meisterschülerin des Bildhauers Norbert Kricke abschließt. Es folgt das Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik in Bonn, 1981 die Promotion und 1989 eine Professur an der Pädagogischen Hochschule Kiel. Seit 1995 lehrt sie als Professorin im Fachbereich Kunst an der Universität Kiel.

1989, nach dem Fall der Mauer, steht also die Künstlerin in dem Ort, den sie mehr als drei Jahrzehnte zuvor verlassen musste. Betritt ihr Geburtshaus, die Straßen, Plätze und die Ufer ihrer Kindheit. In den Zeichnungen spürt man ein behutsames Herantasten: an die eigene Vergangenheit, an den fremd gewordenen Ort, an seine Geschichte und Geschichten, die sich während ihrer Abwesenheit ereignet haben; aber auch das Zugehen auf die Menschen, die heute dort leben.

Mit ihren Studenten hat Barbara Camilla Tucholski Kunstaktionen in Loitz veranstaltet, ihre persönlichen Erinnerungen hat sie zeichnerisch reflektiert und immer wieder das Städtchen, seine Umgebung und seine Menschen portraitiert. Und was würde sich dafür besser eignen als die Zeichnung; die intimste und direkteste Ausdrucksform der bildenden Künste.

Doch diese persönlichen, diese intimen Eindrücke bleiben nie privat, sondern führen in der Zeichnung das weiter, was Harald Szeemann in den 70er Jahren mit dem Begriff „individuelle Mythologien“ entworfen hat: eine „Kunstgeschichte der Intensität, die sich nicht an formalen Kriterien allein, sondern an der spürbaren Identität von Intention und Ausdruck“ orientiert. (Szeemann)

Barbara Camilla Tucholski ist eine intensive Beobachterin, als Malerin und ganz besonders als Zeichnerin. Ihre meist sparsam konturierten Blätter zeugen von einer ungeheuren Begabung, die Welt beobachtend – bis in den kleinsten Winkel und aus ungewöhnlichen Perspektiven – wahrzunehmen, zu begreifen. Der Begriff des Horror Vacui, der so manchen Künstler plagt – scheint ihr dabei völlig fremd zu sein.

Den beobachtenden Sinnen von Barbara Camilla Tucholski entgeht nichts – vor allem nicht die kleinen, scheinbar nebensächlichen oder unspektakulären Dinge. Dabei geht sie nie voyeuristisch vor, sondern mit einer fast skrupulösen Zartheit.

Trotzdem ist die Umwandlung des Gesehenen, das Ergreifen der Dinge mit dem Bleistift auf dem Zeichenpapier alles andere als langsam oder zögerlich. Rasche, pointierte Lineaturen fallen wie beiläufig, wie zufällig auf das Blatt, um dann mit nur wenigen Strichen zielgerade zum Wesen der Dinge vorzudringen.

Diesem so leicht daherkommenden Zugriff auf das Wesentliche gehen das intensive Beobachten, das Studieren und Erfahren voraus, mithin: die künstlerische Idee. Jedem einzelnen Blatt wohnt das inne, was die Renaissance als geistige Quelle der künstlerischen Idee ins Zentrum gestellt hat: das Disegno. Für Künstler wie Benvenuto Cellini war die Idee, das Disegno prima, der Ausführung übergeordnet. Giorgio Vasari schrieb in seinen berühmten »Lebensbeschreibungen der ausgezeichneten italienischen Baumeister, Maler und Bildhauer« von den „tre arti del disegno“. Worunter Vasari die Architektur, die Malerei und die Bildhauerei subsumierte, und das Disegno als deren Vater.

So reduziert und klar die Zeichnungen sind, so sehr wird in ihnen die geistige Idee sichtbar. Dennoch sind sie die Zeichnungen nicht abstrakt, geht es nicht um die Überwindung der gegenständlichen Darstellung, wie sie Wassily Kandinsky in seiner Schrift über „Das geistige in der Kunst“ gefordert hat.

Barbara Camilla Tucholski hat ihren eigenen Realismus entwickelt und eine sehr eigenwillige Perspektive. Wenn Ihnen mancher Blickwinkel doch arg verschoben und skurril erscheint, so darum, weil die Künstlerin oft rücklings auf dem Boden liegend arbeitet. Nun könnte man sagen, gut, dieses sind Phantasie-Räume und Phantasie-Orte (und wir gestatten den Künstlern die Phantasie und die Lüge ja nur allzu gern). Aber Barbara Camilla Tucholskis Bildräume entstammen eben nicht der puren, künstlerischen Einbildungskraft, sondern ihren sehr konkreten Beobachtungen.

Außerdem zeichnet sie auch das, was sie in den Randzonen der optischen Sinne wahrnimmt. In diesen Randzonen scheint ihr Auge über den herkömmlichen Radius, wie er unserem durchschnittlichen Wahrnehmungsvermögen eigen ist, weit hinauszureichen. Mit knappen Linien umreißt sie die Dynamik transitorischer Orte in der U-Bahn von Rom. Wir sehen keine U-Bahn, aber den Sog, welchen einfahrende Züge oder die Konstrukte der modernen Fortbewegung auf die Benutzer ausüben. Was wir außerdem sehen, ist ein unmögliche Perspektive: einerseits eine Aufsicht (quasi aus dem Deckengewölbe), andererseits deuten die Linienfluchten eine Untersicht an. Wir dürfen annehmen, dass die Künstlerin an diesem Ort nicht liegend gearbeitet hat.

Der Blick von Barbara Camilla Tucholski hat längst seine eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt. Vielleicht könnte man diese Perspektive: freischwebend nennen – frei im Sehen und im Denken ist sie allemal.

So wie die Säulen auf dem Petersplatz – perspektivisch natürlich völlig unkorrekt – heiter zu schwingen scheinen, vielleicht aber krümmen sie sich auch unter der Last der Historie oder unter den Blicken der Touristen? In seiner Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung »Das Auge Licht sein lassen« im schleswig-holsteinischen Landesmuseum Schloss Gottorf sagte Ulrich Kuder über den Goethe-Rom-Zyklus: „Die Zeichnungen der Künstlerin sind Zeugnisse ihres Gehens, Sehens, Wiederkommens, aber auch ihrer Schulung in und durch Rom.

Durch die im Wiederkommen und im wiederholten Sehen erlangte Freiheit der Seele wurden die Straßen, Bauten und Plätze Roms befreit aus dem Gefängnis ihrer tausendfachen Reproduktion.“ Die Zeichnungen befreien aber nicht nur das große Hehre, das kulturell so abgesicherte, sondern legen immer wieder auch den Blick frei auf das Alltägliche. Auf die Situation von Menschen, die in Wohnsilos leben, und deren lärmende Einsamkeit Barbara Camilla Tucholski in einem einzigen Plattenbau mit einem oder zehn Balkonen konzentriert. Im ‚Detail’ des einzelnen Hauses hört man das Drumherum, erkennt die Vielstimmigkeit, die das Auge sonst nur sukzessive wahrnehmen kann oder aber in der Fotografie; und bezeichnenderweise lehnt Barbara Camilla Tucholski die Titel ihrer Zeichnungen an diejenigen der fotografischen Dokumentation an, benennt Motiv, Ort und exaktes Datum.

Was auf den Zeichnungen nicht konkret dargestellt ist, schwingt genau da mit, wo der Künstler Ferenc Jadi einmal „das dunkle Land des weißen Papiers“ ausgemacht hat. Wenn Barbara Camilla Tucholski in einer westfälischen Zechensiedlung Kinder portraitiert, scheinen diese Kinder zu uns zu sprechen und die Portraits vermitteln die tiefe Empathie der Künstlerin für die kleinen Wesen. „Die Menschen dort kommen mittlerweile alle aus der Türkei“, sagt Barbara Camilla Tucholski. „Sie sind Flüchtlinge wie ich einst.“ Und wenn sie ein Mädchen oder ein Geschwisterpaar ohne Gesicht zeichnet, so sitzt deren kindliche Anmut und Aufrichtigkeit, ihre Seele, in ihren sublim dargestellten Körpern.

„Wer beim Sehen spart zahlt meistens drauf“, hat die Künstlerin einmal gesagt. Barbara Camilla Tucholski spart nicht mit ihrem Sehen, und mit ihrer Kunst hilft sie uns, großzügiger sehen zu lernen.

Biographie

1947 geboren in Loitz an der Peene
1970-76 Studium an der Kunstakademie Düsseldorf, Meisterschülerin von Norbert Kricke
1976-81 Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik, Universität Bonn
1989-95 Professur an der Pädagogischen Hochschule Kiel
1995-2013 Professur an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Barbara Camilla Tucholski lebt und arbeitet in Oevelgönne, Wien und Rom.

Ausstellungen (Auswahl):

2017 vor Ort, Galerie Werner Klein, Köln (EA)
Im Bild bleibt die Zeit stehen · Part IV, 40 Jahre Galerie Mönch Berlin
2016 Zeichnungsräume II, Positionen zeitgenössischer Graphik, Hamburger Kunsthalle
Galerie Parterre Berlin, Verleihung des 10. Egmont-Schaefer-Preises für Zeichnung (EA)
Zeichnungsräume, Hamburger Kunsthalle, Galerie der Gegenwart, Hamburg
SITUS VI LATIN ISSET ABERNIT, Kunstverein Schwerin
2015 Erratische Blöcke, Kunstraum Peenetrans, Loitz
2014 Menschen, Tiere und Kanonen, Kunsthalle Rostock
Die Kunst des Weglassens, Neue Sächsische Galerie, Chemnitz
2012 Albertina Contemporary, Albertina, Wien (EA)
2009 Die Gegenwart der Linie, Pinakothek der Moderne, München
2008 Galerie Mönch Berlin (EA)
Koordinaten M-V. Vom Wesen des Wandels, Staatliches Museum Schwerin
2006 Schloß Gottorf, Schleswig (EA)
Goethe Nationalmuseum, Weimar (EA)
2005 L’Espace Henri Matisse, Creil, Frankreich (EA)
Casa di Goethe, Rom, Italien (EA)
„Meer, Strand und Himmel“ Künstlerhaus Schloss Plüschow
2004 Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg (EA)
„Neue Ansichten vom Ich“ Herzog-Albrecht-Museum, Braunschweig
2003 „Prototypes“ FRAC Picardie, Amiens
„Nord Kunst“ Schleswig-Holstein im 20. Jahrhundert,
Nordsee Museum Husum-Nissenhaus
2000 Kunstmuseum Düsseldorf (EA)
FRAC Picardie, Amiens (EA)
Graphische Sammlung der Albertina, Wien (EA)
1999 “Selections Fall” The Drawing Center, New York
1998 Stadtgalerie im Sophienhof, Kiel (EA)
Studio Atrio, Sant’ Anna in Camprena, Pienza (EA)
1997 Kunsthalle Rostock (EA)
Kunstverein Göttingen (EA)
Städtische Galerie, Stettin (EA)
„Salute“ Stadtgalerie im Sophienhof, Kiel
„Augenzeugen“, Die Sammlung Hanck, Kunstmuseum Düsseldorf
1996 „Bekannt(-)Machung“ 15. Ostsee-Biennale, Kunsthalle Rostock
Kunstverein Baselland, Sissach, Schweiz
Darius Collection, Rotterdam
1995 Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern (EA)
La Nuova Europa, Venedig
Städtische Galerie Würzburg (EA)
1994 „Mare Balticum“ Moderna Musset, Stockholm
Ostholstein-Museum, Eutin (EA)
1993 Kunstverein Weserburg, Bremen
Norrtälje Konsthall, Norrtälje, Schweden
Konsthall Sandviken, Schweden
1990 Kunstverein Bonn (EA)
Kunstverein Ulm (EA)
1989 Kunsthalle Kiel (EA)
Städtische Galerie Albstadt (EA)
1988 Konsthall Tomelilla, Schweden (EA)
Galerie Mönch Berlin (EA)