Die Video-Zeichnungen von Betina Kuntzsch

2006 erfand Betina Kuntzsch die Video-Zeichnung. Zunächst, indem sie zufällige Materialdefekte wie grobe Pixel oder die Rastereffekte, die durch Video-Halbbilder entstehen – Bildstörungen also –, in ihre Fotografien übertrug. Aus diesen ursprünglichen Video-Zeichnungen auf Papier entwickelte Kuntzsch elektronisch animierte Bewegungsstudien, mit denen sie dem immateriellen Medium ungewöhnliche materielle Qualitäten entlockt sowie Raum und Zeit in einer Art Dehnungsfuge überschreibt und öffnet.

Als Grenzgängerin zwischen Medienarchäologie und digitaler Zeitgenossenschaft gräbt Betina Kuntzsch nach den Sandkörnern im wirklichen sowie im virtuellen Getriebe und schafft so Parabeln von hintergründiger Aktualität und Humor.

Betina Kuntzsch · Aus der Stadt II

Nach Aus der Stadt (2010) und Filmstaub Altes Gaswerk (im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie 2014), die nunmehr dritte Einzelausstellung mit neuen Arbeiten (Videos, eine Projektion und Prints) der Berliner Künstlerin und Filmemacherin.

Betina Kuntzsch hat an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig studiert, wo sie 1988 – als erste und wohl auch einzige Studentin zu DDR-Zeiten – ihr Diplom mit einem Video erlangte.
Seither erforscht Kuntzsch – die in den in den letzten Jahren außerdem zur gefeierten Autorin animierter Dokumentarfilme avancierte – die Schnittstellen und Überlagerungen von technischen Entwicklungen und künstlerischen Visionen, die stets Bezug auf die sich wandelnde Realität nehmen.

Die Video-Zeichnungen

2006 erfand Betina Kuntzsch die Video-Zeichnung. Zunächst, indem sie zufällige Materialdefekte wie grobe Pixel oder die Rastereffekte, die durch Video-Halbbilder entstehen – Bildstörungen also –, in ihre Fotografien übertrug. Aus diesen ursprünglichen Video-Zeichnungen auf Papier entwickelte Kuntzsch elektronisch animierte Bewegungsstudien, mit denen sie dem immateriellen Medium ungewöhnliche materielle Qualitäten entlockt sowie Raum und Zeit in einer Art Dehnungsfuge überschreibt und öffnet.

Als Grenzgängerin zwischen Medienarchäologie und computerbasierter Zeitgenossenschaft gräbt Betina Kuntzsch nach den Sandkörnern im wirklichen sowie im virtuellen Getriebe und schafft so Parabeln von hintergründiger Aktualität und Humor.

Betina Kuntzsch | GREIFSWALDER 2010/13/16 | 2016 | Video, gefilmte Tableaus | Animation 20 Min. | Auflage 3+2 AP | Galerie Moench Berlin

GREIFSWALDER STRASSE | 2010/13/16
Video | gefilmte Tableaus | Animation 20 Min. | Auflage 3+2 AP

Betina Kuntzsch | KLEINES FELD | 2013 | Video-Zeichnung | Video-Objekt: digitaler Fotorahmen, MDF-Rahmen | Animation, Loop 16 Min. | 20 x 30 x 5 cm | Unikat | Galerie Moench Berlin

KLEINES FELD | 2013
Video-Zeichnung | Video-Objekt: digitaler Fotorahmen, MDF-Rahmen | Animation | Loop 16 Min. | 20 x 30 x 5 cm | Unikat

Betina Kuntzsch und Carola Czempik | SALZSPIEGEL | 2010/2011 | Betina Kuntzsch: zwei Videoprojektionen HD | Loop 2 Min/10 Min | Carola Czempik: 4 Salzpapier-Objekte | Gesamthöhe 180 cm | Galerie Moench Berlin

SALZSPIEGEL | 2013
Betina Kuntzsch und Carola Czempik | zwei Videoprojektionen (Betina Kuntzsch) | HD | Loop 2 Min/10 Min | 4 Salzpapier-Objekte (Carola Czempik) | Gesamthöhe 180 cm

Betina Kuntzsch | Schnellstrasse | Video-Zeichnung | Galerie Moench Berlin

SCHNELLSTRASSE | 2010
HD-Video | Animation | Loop 3 Min. | DVD | Auflage 10

Betina Kuntzsch | A5 EINE REISE TUN 1 | 2008 | Videozeichnungen | Piezoprint auf Papier | Auflage 3+2 AP | 80 x 140 cm | Galerie Moench Berlin

EINE REISE TUN | 2008
Dreikanal Video-installation | HDV | Loops: 2:25 | 5:00 | 4:18 Min.

Betina Kuntzsch | A100 BUNDESPLATZ 5 | 2008 | Videozeichnung | Lambdaprint auf Alu-Dibond | Auflage 5+2 AP | 50 x 70 cm | Galerie Moench Berlin

LÄRMSCHUTZWAND | 2007
Videotape | DVD | Loop 3 Min.

SALZSPIEGEL | Installation von Betina Kuntzsch (Video) und Carola Czempik (Salzpapier-Objekte)

FILMSTAUB ALTES GASWERK | 2014 | im Rahmen des 6. Europäischen Monats der Fotografie Berlin
Fotografie | Video-Zeichnung
Betina Kuntzsch FILMSTAUB ALTES GASWERK

Betina Kuntzsch zeigt Fördertürme und Schlote, umwoben von Spinnennetzen oder zersplittertem Glas. Das Thälmann-Denkmal als monumentales Pappmodell. Angekratzt von den Spuren der Zeit, noch bevor der Bronze-Thälmann gegossen war.

1982 hat Betina Kuntzsch das im Vorjahr stillgelegte Gaswerk Prenzlauer Berg fotografiert. Der geplante Abriss der historischen Gasometer entfachte einen bis dato in der DDR ungekannten Bürgerprotest. Visionen und kulturelle Nutzungskonzepte wurden entwickelt. 1984 wurden sie gesprengt.

30 Jahre später waren die Negative durch einen Wasserschaden im Atelier beschädigt. Betina Kuntzsch hat sie trotzdem gescannt und auf Fotopapier ausbelichtet. Mitsamt dem Filmschmutz und Staub, mit Wasserflecken oder Rissen, die in der Filmschicht sichtbar werden. Denn in die dokumentarischen Momente lagern sich Zeitschleifen ein.

In ihren Fotografien und Videos arbeitet die 1963 in Berlin geborene Künstlerin bewusst mit Materialdefekten und Artefakten. Entdeckt verschwundene Inhalte, schafft Erinnerungen an die Vergänglichkeit – auch von Utopien.

WINDWECHSEL | Betina Kuntzsch (mit Carola Czempik) | 2012

Eine „Blüte“ zwischen kahlen Zweigen. Wie die letzte Blüte eines herbstlichen Taschentuchbaumes (Davidia involucrata). Geht sie auf oder welkt sie bereits vor sich hin? Betina Kuntzsch hat in den Verästelungen der kargen Baumkrone ein seltsames Gewächs entdeckt: „Eine typische Berliner Pflanze“, sagt die Künstlerin.

Bei genauem Hinsehen entpuppt sie sich als verwitterte Plastiktüte. Eine Großstadtpflanze, die mit dem typisch kuntzschen Blick ihre eigenwillige Poesie entfaltet.

Betina Kuntzsch verwandelt Alltagsgegenstände, von denen wir den Blick in der Regel abwenden, in eindrückliche und heitere Stillleben vom Werden und Vergehen: Wie den Plastiktütenfetzen in einem Kreuzberger Baum, der zur sinnlich wehenden „Blüte“ wird oder ein Baustellennetz, das Kuntzsch in ein malerisch bewegtes Tableau verwandelt.
An diesen urbanen Naturphänomenen hat aber auch der Wind mitgearbeitet. Er lässt die Plastiktüte aufblühen und welken. Lässt das giftgrüne Baustellennetz in der Bewegungsunschärfe erdig-golden schillern oder seine Böen über Kuntzschs „Kleines Feld“ ziehen.

Windwechsel“. Ein Ausstellungstitel, über den man stolpern kann. Am n hängen bleibt wie an einem Haken, weil der Wildwechsel ja doch geläufiger ist. Aber neben der Poesie steckt in diesem Titel zugleich eine fruchtbare Offenheit. In welche Richtung wechselt der Wind? Von der Ruhe zum Sturm oder umgekehrt? Von der Sommerbrise zum klirrenden Eiswind?
Zudem klingt im Wechsel die Polarität an. Die so gegensätzlichen Werke der Künstlerinnen Betina Kuntzsch und Carola Czempik, die sich aus ganz unterschiedlichen Richtungen aufeinander zubewegen. In einer künstlerischen Freundschaft, aus der ein höchst produktiver Dialog entsteht.

Auf den ersten Blick sind die Arbeiten von Betina Kuntzsch immateriell. Dabei hat, so die Künstlerin: „eigentlich alles damit zu tun, dem Video eine Materialität zu geben. Medium und Materialwiderstand zu spüren, Zeichenhaftes zu erzeugen, auch in der Bewegung. Mit der Kamera und mit der Animation zu zeichnen, zu suchen, zu formen, flüchtig und beweglich zu bleiben, in den Wind zu zeichnen.“

Dieses Zeichnen und der Materialwiderstand werden im Video „Richtungen“ zu einer Art Kampf der Grundelemente: Punkt und Linie, die ja so etwas wie der Rohstoff der Zeichnung sind. Kometengleich rast da ein Schweif durch den nachtschwarzen Himmel, der allmählich in verschiedenen Graustufen zum Tag übergeht. Aus Tuscheklecksen formieren sich Punkte zu Linien, die weiß und schwarz – einige blau – zunächst als schmaler Streif beginnen, dann breiter werden und spitz zulaufen.

Sie ziehen ihre Bahnen in parallelen und gegenläufigen Richtungen, kreuzen und überlagern sich. Jede in ihrem eigenen Rhythmus und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Manche verdichten sich an den Rahmenkanten zu einer Art Punkthaufen, in dem die Linie die Richtung in einer Zickzackbewegung ändert.

Ähnlich dem Hasen, der einen Haken schlägt, um seine Verfolger abzuhängen. Andere fliehen gleich aus dieser Sphäre. Sie lösen sich allmählich zu Zirruswolken auf oder feinem Schneegestöber. Dazwischen schießt ein Feuerwerkskörper auf.
Ebenso poetische wie witzige Formationen, die einander necken und bekämpfen. Im meditativen Fluss erinnern sie aber auch an Kondensstreifen oder Vogelschwärme. Schreiben flüchtige Kaligrafien in den Himmel, bis der Tag wieder zur Nacht wird.

Während in „Richtungen“ die Partikel an gezeichnete Linien angehängt sind, setzt sich das Video „Universum“ aus animierten Linien zusammen. Auch hier verdichten und überlagern sich die gezeichneten Komponenten. Sie formen eine Art Erdkugel, auf der die Längen- und Breitenkreise aus dem Lot geraten sind. Sie kreisen und biegen sich, bilden ruhig schwingende Skripturen und ein seltsam verformtes Netz.

In der Ballung erinnert das an ein Knäuel, das zwischen die Tatzen einer Katze geraten ist. Nur eben in Zeitlupe. In diesem verknäuelten, verknautschten „Universum“ pulsiert das Gradnetz der Erde. Es atmet.

In seiner Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises ruft Paul Celan 1961 zu einer neuen Wahrnehmung auf: „Aber es gibt, wenn von Kunst die Rede ist, auch immer wieder jemand, der zugegen ist […] und den Sprechenden hört, ihn >sprechen sieht<, der Sprache wahrgenommen hat und Gestalt, und zugleich auch […] Atem, das heißt Richtung und Schicksal. […] es verschlägt uns den Atem und das Wort. Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten.“ Celan beschließt seine Rede mit den Worten: „Ich finde etwas […] Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei –heitererweise – sogar die Tropen Durchkreuzendes –: ich finde … einen Meridian.“

Aus Linien und Geraden scheint auch das Video-Objekt „Wirbel“ geformt. Obwohl unser Auge Flugbahnen imaginieren kann, besteht der Wirbel nicht aus Linien, sondern aus kleinen, rechteckigen Elementen. Betina Kuntzsch lässt sie aufmarschieren zu geometrischen Konstruktionen. Sie bilden exakte Reihungen, einzelne scheren aus. Werden wippend und hüpfend zu Figuren, die aus der Reihe tanzen. Sie setzen zum Schweben an und werden wie vom Sturm aus dem Bild gefegt. Doch kehren sie immer wieder zurück. In ihren rhythmischen Bewegungen assoziieren wir diese grafischen Elemente als Körper.
Gerade so, wie wir in Piet Mondrians „Broadway Boogie Woogie“ von 1942 noch heute die Wolkenkratzer und das Straßennetz Manhattans zu entdecken glauben.

In seinem Essay Liberation from oppression in art and life schrieb Mondrian: „Eine Reduktion der Form und Farbe – eine Befreiung der Form und Farbe von ihrer besonderen Erscheinung in der Natur ist nötig, um Rhythmus zu befreien und folglich Kunst. Geklärter Rhythmus produziert geklärtes Gleichgewicht … In jeder Kunst ist es die Funktion des Rhythmus, statisch gebundenen Ausdruck durch dynamische Aktion zu verhindern.“

Betina Kuntzsch transformiert die „dynamische Aktion“ im virtuellen Raum ihrer Video-Objekte zu einer realen Dynamik. Ihr Rhythmus bringt eine spezielle Farbe hervor: die Farbe des Humors. Der „Wirbel“ oder das „Kleine Feld“ erinnern an Goethes Zauberlehrling. „Auf und Fall“ erscheint wie eine Sisyphos-Arbeit. Aber, wie heißt es so schön in Albert Camus’ Der Mythos des Sisyphos: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Durchzug könnte der Auslöser für die pointierten Rhythmen und heiteren Widerständigkeiten in Betina Kuntzschs Video-Objekten sein. Ähnlich wie in dem gleichnamigen Gedicht von Kathrin Schmidt:

„ich habe die türen
geöffnet winde durchstreifen mein hin
geworfenes haus daß kein staub in
den ecken bleibt auch ich werde an
händen und füßen gepackt aus dem
fenster gefegt nun muß ich nicht
sehen wo ich geblieben wäre“

Kathrin Schmidts Gedicht unterstreicht zugleich Betina Kuntzschs künstlerischen Dialog mit Carola Czempik. 2010 kulminiert die künstlerische Freundschaft im gemeinsam entwickelten „Salzspiegel“. Eine Rauminstallation, in der sich die Arbeitsweisen der beiden Künstlerinnen durchdringen und in einen erhellenden Dialog über Materialität und Immaterialität treten.

Über Licht als „immaterielle Materie“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel), ebenso wie über die Verwandlung der materialbetonten Salzpapierleibchen in lichte Objekte. Zwei konträre Kunstauffassungen, die in ihren Polaritäten von dem Gedanken zeugen, aus dem Johann Wolfgang Goethe das Trennende und Verbindende der Wahlverwandtschaften entwickelt hat.

Betina Kuntzsch hat das weiße Licht der Projektion aus einer einzelnen Linie zum Video animiert. In der Video-Zeichnung wandert die multiple Linie in Form von Vertikalen und Horizontalen, von Diagonalen und Strudeln durch den Raum. Fällt auf Wände und Betrachter, nimmt den Dialog mit den Salzpapierleibchen von Carola Czempik auf. Vier Objekte in Weiß-, Sepia- und Brauntönen, auf Sockeln und zwischen Acrylglas eingebettet. Die weißen von einer zarten Körperlichkeit, die in den dunkleren zu abstrakt malerischen Strukturen wird. Die Projektionen der Lichtstäbe steigern das Kristalline der Salzkörnchen. Die Linien scheinen haptisch greifbar.

Im faszinierenden Zusammenspiel von flirrenden Linien und funkelnden Salzkrusten erweitern Betina Kuntzsch und Carola Czempik den Raum. Nicht zuletzt auch unseren Gedankenraum.

Michaela Nolte, Berlin, September 2013

Biographie

1963 geboren in Berlin
1983-1988 Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig
Betina Kuntzsch lebt und arbeitet in Berlin

Förderungen, Preise, Stipendien (Auswahl)

2020 Stipendium Stiftung Kunstfonds, Neustart Kultur
Künstlerische Kommentierung des Ernst-Thälmann-Denkmals, Wettbewerb, erster 2. Preis und Realisierung
2019 Recherchestipendium des Berliner Kultursenats
Ankauf der Förderkommission Bildende Kunst Berlin (HALMASPIEL)
2018 Artist in Residence, Fondazione Seewald, Ascona, Schweiz
2017 FBW-Prädikat „Besonders Wertvoll“ (HALMASPIEL)
2016 ANIMATOU Genf, Prix Animatou Docanim (WEGZAUBERN)
2015 DOK Leipzig, GOLDENE TAUBE (WEGZAUBERN)
2012 Kunstpreis Schöneberg, 2. Preis (OHNE TITEL)
2009 Medienboard Berlin-Brandenburg, Filmförderung (KUNSTARBEITER)
2007 Artist in Residence, Nau Côclea, Girona, Spanien
2006 Kulturwerk der VG Bildkunst, Projektförderung (SCHWARZ WEISS FILM)
1996 Berliner Kultursenat, Arbeitsstipendium
1991/1995 Stiftung Kulturfonds, Projektförderungen

Einzelausstellungen (Auswahl)

2021 STADTSTRANDEN, Galerie Mönch Berlin (K)
2019 AUS DER STADT II, Galerie Mönch Berlin
2018 VIDEOZEICHNUNGEN, ARDEX Informationszentrum (AIZ), Witten (K)
2017 FLORAL Galerie Sandkasten, München
2016 AUSFLÜGELN (mit Carola Czempik und Marianne Stoll) Kulturmühle Perwenitz
2015 LICHTSPIELE Bundesplatzkino, Berlin (Videoinstallation)
2014 FILMSTAUB ALTES GASWERK Galerie Mönch Berlin (K). Im Rahmen des 6. Europäischen Monats der Fotografie
2013 WINDWECHSEL (mit Carola Czempik) Galerie Mönch Berlin (K)
2012 AUS KOREA Galerie ABAKUS, Berlin
2010 AUS DER STADT Videozeichnungen, Galerie Mönch Berlin

SALZSPIEGEL (mit Carola Czempik), ver.di, Kunst im Spreebogen, Berlin

VIDEOZEICHNUNGEN Tscheboksary, Tschuwaschien (Russland)

2008 SCHWARZ WEISS FILM BrotfabrikGalerie, Berlin(K)
2006 STADTSTRANDEN intervision-studio, Osnabrück

KINDERALBUM Videoinstallation, Museum Kindheit und Jugend, Berlin

Gruppenausstellungen und Filmfestivals (Auswahl)

2021 URBAN MORPHOLOGIES, Konzertinstallation zu Kompositionen von Katharina Rosenberger in Zusammenarbeit mit dem Ensemble Mosaik, Silent Green Berlin und Klybek, Festival Zeiträume, Basel
2019 TRANSFORMATIONEN, Kommunale Galerie Berlin
2018 ART & POLITICS, Galerie KRO ART, Wien
2017 SKILLS Kunsthalle Brennabor, Brandenburg

„19/20/17 Künstler*innen erinnern Revolutionen“ Kunsthaus der Achim-Freyer-Stiftung, Berlin

SPIELFELDER (mit Carola Czempik) Galerie M, Potsdam

„Im Bild bleibt die Zeit stehen – 40 Jahre Galerie Mönch, Part V“

In den RAUM ZEICHNEN (umreißen), Galerie Parterre Berlin

In den RAUM ZEICHNEN (verdichten), Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten, Berlin

2016 Galerie Mönch auf der POSITIONS BERLIN Art Fair, Bikini Berlin

2 FICAE Valencia 2016, „Wegzaubern“, Preis für die beste Animation
TRICKY WOMEN Wien 2016, „Wegzaubern“, Special Mention of the Jury

Festivals u.a.: IKFF Hamburg, MIAF Melbourne, ANIMASIVO Mexico City, ANIMATOU Genève

2015 DOK Leipzig, Goldene Taube für „Wegzaubern“, Bester animierter Dokumentarfilm

Kommunale Galerie Berlin „Heim_Spiel“ (K)

2014 Festival Kunstlicht, Velten, „Netz-Werk“
2013 Haus am Kleistpark, Berlin „Heute hier – bugün burada“ (K)
2012 Haus am Kleistpark, Berlin, „Kunstpreis Schöneberg 2012“ (2. Preis)
2011 Gangneung, Korea, „Hommage an Heo, NanSeolHeon“ (K)

Alte Brauerei, Potsdam, „open]art[space“

2010 „Positionen – 50 Jahre GEDOK Berlin“, Haus am Kleistpark | Kunstraum Bethanien
2009 Neuer Berliner Kunstverein, „Kunst und Öffentlichkeit – 40 Jahre NBK“

Verborgenes Museum, Berlin „o. T. – Wer die Wahl hat“

2008 Blumengroßmarkt, Berlin, “KUNSTINVASION!” (K)

Villa Kobe, Halle, “Salz – 12 Berliner Künstler über Salz”

2007 Kunsthalle Dominikanerkirche, Osnabrück , „Final Cut“ (K)

Galerie der Künste, Berlin, “007-Targets of Opportunity”

2006 Willy-Brandt-Haus Berlin, “Dialog digital analog/Synopse 06” (K)

Kommunale Galerie Wilmersdorf, Berlin, “Stadt der Frauen”

2005 Nikolaj Contemporary Art Center, Kopenhagen, “Circa Berlin”
2003 Rathaus Wittenberg, “Vorbild-Nachbild / Hommage à Lucas Cranach“ (K)
2002 Städtische Galerie Fürstenwalde/Spree, “Grenzenlos-endlos“ (K)
2000 Neues Kunsthaus Ahrenshoop, “Wasserzeichen“ (K)
1999 Museum Ludwig, Köln, “Abstraktion in der Fotografie“
1998 Galerie FOE 152, München, „Der Riss is“
1997 Galerie Schwarzenberg, Berlin, “Tatbestände“
1996 Centre Georges Pompidou, Paris, 5th International Art Film Biennale (K)
1992 Museum für Gegenwartskunst, Basel, „Video und DDR“
1991 Ephraim-Palais, Berlin, “Junge Berliner Kunst“
1990 Palais am Festungsgraben, Berlin, „Hommage à El Lissitzki“ (K)
Rede zur Ausstellungseröffnung Betina Kuntzsch BINSENLIED am 26. April 2025
Von Michaela Nolte

BINSENLIED

Eine Linie leuchtet und wandert über die Wand. Formiert sich zu Blättern und Blüten, zu einer Pflanze. Der Gewöhnliche Blutweiderich oder das Scharbockskraut tauchen auf, ziehen durch den Raum und lösen sich wieder auf. 

Wenn sie Gestalt annehmen, verwandeln sich in den ebenso bewegten wie bewegenden Animationen die Striche – respektive die eine Linie, mit der Betina jede dieser Pflanzen gezeichnet hat –, in Wurzeln und Blüten, in Blätter und Figuren, manche mit animistischen Zügen. Mischformen und Mischwesen, die interagieren.

 

WACHSTUM IM ZEITRAFFER

In Betinas jüngster Audio-Video-Installation können wir Pflanzenarten beim Keimen zusehen, können ihr Wachsen und Erblühen beobachten, aber auch ihr Verblühen bis sie wieder zu Erde zerfallen.

Das Wachstum im Zeitraffer als graziler und dynamischer Tanz der Natur, als Symbol für das Werden und Vergehen im Loop unseres Daseins.

Die Expansion der Linien im Raum – entfaltet – mal als flirrender Rhythmus -, mal in einem ruhigen, meditativen Fluss – Raum – für Phantasie.

 

DER KLANG DEUTSCHER UND WENDISCHER NAMEN

Habichtskraut ist da zu hören – zlosana tšawa oder Bittersüßer Nachtschatten, auch Wolfsauge genannt, wjelkowe woko. Pflanzennamen, die für sich und im Zusammenklang der deutschen und wendischen/niedersorbischen Begriffe, der oft vielfältigen und phantasievollen Bezeichnungen eine wunderbar sinnliche Anmutung haben.

Übergänge und grenz- und sprachenübergreifende Dialoge zwischen Pflanzen und Betrachtenden, aber auch zwischen den Akteuren der Flora untereinander. Denn Pflanzen haben eine eigene Form von Sprache. Kommunizieren über Duftmoleküle oder über Netzwerke zum Beispiel zwischen Bäumen und Pilzen.

 

MENSCH-NATUR-VERFLECHTUNGEN

So, wie auch die vielfältigen Daseinsformen der Natur nicht isoliert voneinander leben, existiert auch der Mensch nicht für sich allein oder unabhängig von anderen Lebensformen und Ökosystemen.

Eindrücklich dargelegt hat das die US-amerikanische Wissenschaftstheoretikerin und Philosophin Donna Haraway mit ihrer Theorie der Sympoeisis, die die komplexen Verflechtungen zwischen Mensch und Natur betont und davon ausgeht, dass alle Lebensformen miteinander verbunden sind und nur in diesem Netzwerk von Beziehungen existieren können.

 

ZWISCHEN ERZÄHLUNG UND RAUMBEZUG

Betina Kuntzsch erforscht diese vielschichtigen Verbindungen und Verknüpfungen. Sie zeichnet, erfindet und animiert ein dynamisches Bild der Natur und ihrer irisierenden Prozesse. In unserer Phantasie können wir uns dann noch all das Gewürm und kleinste Getier vorstellen, das zwischen den Pflanzen, über und unter dem Erdboden kreucht und fleucht.

An der Schnittstelle zwischen Erzählung und Raumbezug erklingt das Binsenlied auf verschlungenen und sich überlagernden Wegen über Wände und Ecken, Boden und Decken. Mal wachsen die Konturen zart wie beim Dachhauswurz, dann wiederum wuchern die dicht gewebten Fäden des Wollgrases zu einer bauschigen Stofflichkeit im unstofflichen Medium.

Die stilisierten Pflanzenbilder bilden eine Art Tableau vivant des Stilllebens oder, wie Michel Foucault es genannt hat eine „unkörperliche Materialität“.

 

KUNST UND NATUR

Karl Blossfeldt, dessen fotografische Pflanzenstudien in den 1910er- und 20er-Jahren der Systematisierung dienten und die im Geiste der Neuen Sachlichkeit streng formalen Kriterien folgten, schrieb im Vorwort seines Buchs Wundergarten der Natur:

„Meine Pflanzenurkunden sollen dazu beitragen, die Verbindung mit der Natur wieder herzustellen. Sie sollten den Sinn für die Natur wieder wecken, auf den überreichen Formenschatz in der Natur hinweisen und zu eigener Beobachtung unserer heimischen Pflanzenwelt anregen“. So Blossfeldt 1932 und sein Plädoyer für das was wir heutzutage Achtsamkeit und Biodiversität nennen, erscheint uns fast wie eine Binsenweisheit.

 

BIODIVERSITÄT

Unser Umgang mit dem Planeten, die permanente Gefährdung der Atmosphäre und der Biodiversität tönen fast stündlich durch die Nachrichten, werden tagtäglich mit immer neuen Studien untermauert. Bleibt die Frage, warum es uns so schwer fällt, all dieses Wissen in Handlung umzusetzen oder es auch nur stärker in unserem Bewusstsein zu verankern.

Eine Rede mit dem Titel „Das hier ist Wasser“, die David Foster Wallace 2005 bei einer College-Feier vor Studierenden gehalten hat, beginnt mit der folgenden Parabel:

 

DAS HIER IST WASSER

„Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: »Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?« Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: »Was zum Teufel ist Wasser?«“

Der US-amerikanische Schriftsteller hinterfragt ironisch unsere Blindheit für das Naheliegendste, unsere Selbstgewissheit und unser Ich-zentriertes Denken.

 

ANSTIFTUNG ZUM DENKEN

„Das hier ist Wasser“ und wir schwimmen so selbstverständlich darin, dass wir keinen Blick für seine Existenz und schon gar nicht für sein Wesen haben.

Foster Wallace philosophierte in seiner Rede, in seiner Anstiftung zum Denken über diese scheinbar so banale Tatsache und beweist mit dem Gleichnis, dass das Denken unsere Wahrnehmung und unser Verständnis für das Andere, für den Anderen schärfen kann und uns zu Anteilnahme und Empathie ermächtigt. Wobei ja gerade die Empathie von derzeit politisierenden US-Milliardären als Schwäche gegeißelt wird.

 

BEDROHTE PFLANZENARTEN

Aber Betina Kuntzschs Video-Zeichnung ist ein dezenter Weckruf. Denn die Pflanzen, die hier akustisch und bildhaft aufgerufen werden, sind zum Teil vom Aussterben bedroht. 

Ursprünglicher Ausgangspunkt dieses poetischen audiovisuellen Gedichts war die Rote Liste bedrohter Pflanzenarten in Brandenburg, mit einem besonderen Fokus auf den Spreewald. Allein für diese Region führt die Rote Liste 229 bedrohte Pflanzenarten auf.

 

BEDROHTE KULTUREN

In Betinas BINSENLIED erklingen ihre Namen auf Deutsch und auf Niedersorbisch – der Sprache der dort lebenden sorbischen Minderheit. Womit ein Bogen zwischen Natur, Umwelt und Kultur gespannt wird; sind doch die Sorben, ihre Bräuche und Traditionen, ihre Kultur und insbesondere ihre Sprache ebenfalls gefährdet.

Überleben nur aufgrund sorgsamer Pflege die Dezimierung und den Rückgang unter anderem durch den Braunkohleabbau, der ganze Landstriche vernichtet hat, die Artenvielfalt reduziert und die Menschen und Dorfgemeinschaften durch Umsiedelung auseinandergerissen hat. 

Andererseits aber auch Arbeitsplätze schafft oder neue und komfortabel ausgestattete Wohnungen für die so verpflanzten Menschen. Zwei dokumentarische Fotografien weisen in diesem Sinne in die Gegenwart dieser Region.

 

DAS STÖRBILD

Ein weiterer wesentlicher Aspekt im Werk von Betina Kuntzsch ist das Störbild – sozusagen ihre künstlerische Spezialität – wie in den Serien „Color Tales“ und „Silbersalz“.

Was in der Archivierung, im musealen Bewahren besonders von Filmen und Videos zum veritablen Problem wird, nutzt und verwandelt Betina für und in ihre ganz eigene, faszinierende Kunst.

Im ursprünglichen Film oder Video führt selbst das kleinste Staubkorn zum Riss im stofflichen Medium und mit der Zeit fällt das Trägermaterial unwiederbringlich der Zersetzung anheim. Betina transformiert es in andere, in vermittelnde Elemente und Genres, in einen neuen Kontext, der die Erinnerung wachhält. Denn selbst das ja noch relativ junge Medium Video wird in zwei, drei Generationen eine nicht mehr existente Technik sein.

 

DIE MEDIENARCHÄOLOGIN

Noch einen Schritt weiter in ihrer Medienarchäologie geht Betina mit den „Color Tales“. Bilder respektive Zeugnisse von historischen Stummfilmen im 35-mm-Format. Filmfragmente mit Störungen oder Klebestellen an denen zwei Filmbilder zugleich erscheinen, mit Fehlern und Kratzern, Sprüngen, Beschädigungen und Zersetzungsspuren, die in diesen Aluminiumtafeln zu neuen Formen und Geschichten führen.

Denn Betina ist nicht nur eine Wandlerin zwischen den Medien, sondern ebenso zwischen der Geschichte und Geschichten. Nicht zuletzt in ihren animierten Dokumentarfilmen wie dem über die US-amerikanische Tänzerin und kühne Erfinderin Loïe Fuller. In Anlehnung an ihren dokumentarischen Film „Loïe Fuller. Die elektrische Fee“ von 2021 wird die in diesem Jahr entstandene Video-Zeichnung mit dem Linientanz zur Hommage an die Serpentintänzerin und zum visuellen Konzentrat in Betinas unverwechselbarer Handschrift.

Betinas jüngster animierter Dokumentarfilm mit dem schönen Titel „Himmel wie Seide. Voller Orangen“ wurde kürzlich beim Festival Achtung Berlin mit dem Preis für den besten Kurzfilm ausgezeichnet! Tourt im Mai auf Festivals in Schwerin, Stuttgart und Kiel und wird im Juli auf arte ausgestrahlt. Herzlichen Glückwunsch Betina!